Evangelisch
in Unterbarmen

Gemeinsam. Glauben. Leben.

Sinkender Petrus

Predigt von Pfr. Thomas Corzilius (Sonntag, 24.09.2023)

Liebe Gemeinde,
ich beginne meine Predigt heute einmal direkt mit dem Predigttext.
Es ist eine Erzählung, die damit anfängt, dass die Freunde Jesu, seine Jünger, im Boot sitzen, es ist Nacht und die See ist sehr stürmisch. Da sehen sie ihn, so heißt es, wie er auf dem Wasser läuft und ihnen entgegenkommt … Sie erkennen ihn zunächst nicht, sie erschrecken, sind verwirrt … Und wiedereinmal wird Petrus, dieser eine, auf besondere Weise erwähnt …
Und da heißt es dann:

„… und Petrus stieg aus dem Schiff und ging auf dem Wasser, um zu Jesus zu kommen. Als er aber den starken Wind sah, da fürchtete er sich … nicht. Und mit jedem Schritt auf dem Wasser staunte er, über sein Vermögen. Noch oft erzählte er später diese Geschichte und pries sie als Zeichen dafür, welche Kräfte nicht nur ihm geschenkt waren, sondern allen, die bereit sind, immer wieder allen Stürmen und Wellen und der Tiefe zu trotzen und über’s Wasser zu gehen. Die anderen Jünger beneideten ihn, aber er sagte: Ihr könnt’s doch auch! Und einige von ihnen schlossen sich nach Jesu Tod und Auferstehung einer Petrus-Gruppe an, die sich einen Namen machte in der Verkündigung einer sieghaften, im Glauben triumphierenden, alles überwindenden Jesus-Nachfolge …“

Ok, genauso geht die Geschichte ja gerade nicht – obwohl es doch eine nette, reizvolle Alternative sein könnte …
In Wirklichkeit lesen wir in Matthäus 14, 30: „Als er aber den starken Wind sah, fürchtete er sich, und da er zu sinken anfing, schrie und sprach er: Herr, rette mich!“

Liebe Gemeinde,
alle Auslegungen dieser Erzählung, die ich kenne, alle Predigten, bewegen sich in eine bestimmte Richtung, nämlich: Wenn auch wir nur mehr Glauben hätten, mehr Gottvertrauen, einen stärkeren Glauben – dann würden wir nicht so leicht sinken wie Petrus.
Dann würden wir den Wellen trotzen und dem Wind und der Tiefe …
Dann würde uns das Leben nicht so oft „runterziehen“.
Dann würden wir tapferer und mutiger mit den Herausforderungen umgehen, dann unsere Füße nicht nass werden und wir würden den festen Boden spüren, der uns durch alle Stürme und über alle Wasser trägt.

Und Jesus selbst, in der Erzählung des Matthäus scheint diese Auslegung ja zu bestätigen, wenn er Petrus offenbar tadelt wegen seines Kleinglaubens.

Das Problem ist nur:
Die Geschichte rechnet sich ja nicht wirklich mit unserem Leben.

Und darum geht es mir heute morgen.

Verlassen wir dazu einen Augenblick den Kirchraum.

An allen Ecken begegnet uns ja mittlerweile in Überfülle ein breites Spektrum und ein Riesenangebot an verlockenden „Lebens- und Selbst-Optimierungs-Ratgebern“.
Geh in die Buchhandlung, lies Zeitschriften und Ratgeber, schau in die Broschüren oder ins Internet:
Zu dick? – Kein Problem mit dem 4-Wochen-Garantie-Abnehmprogramm von „Schlank-dich-fit“.
Zu ängstlich und sorgenvoll? – Probier das optimale Entstressungsprogramm mit dem Kursangebot „Yoga-dich-frei“ oder dem „Work-Life-Balance“-Programm vom erfahrenen „Easy-fit“-Leiter mit tausend zufriedenen Teilnehmern.
Und auf dem Nachttisch stapeln sich die Lebenshilfe-Bücher mit Titeln wie „Endlich zufrieden am Arbeitsplatz“, „99 Tips für eine glückliche Beziehung“ oder „Mach Dich selbst zum Helden!“

Egal ob säkular, spirituell oder gezielt religiös: Unzählige Stimmen fordern uns auf, aus unseren wackeligen, kleinen Lebensbooten zu steigen – und wie Petrus beherzt und motiviert übers Wasser zu laufen.
Auch Du kannst es.
Auch für Dich ist die Selbstverbesserung, Selbstoptimierung, die Runderneuerung Deines Lebens möglich.
Also raus aus dem Boot und mutig aufs Wasser.

Aber auch der christliche Glaube ist für Viele behaftet mit diesem „Ich könnte, ich müsste, ich sollte“, weil es wohl zutiefst biblisch und neutestamentlich ist:
Ich könnte einen größeren Glauben haben.
Ich müsste viel mehr Gottvertrauen und Glaubensgewissheit in mir tragen.
Ich sollte ganz anders leben – und an so vielen Stellen anders sein, anders handeln, mich anders verhalten.
Wenn – ja, wenn, ich „mit Ernst Christ sein“ will.
Oder wenn mir eben doch Zweifel kommen.
Und ich den Eindruck habe, wenn überhaupt, ein schlechter, mieser, ständig versagender Christ zu sein, der genau wie alle Anderen auch nicht ansatzweise das hergibt, was man von ihm erwarten könnte …
Ja, schlimmer noch: Was Gott von mir erwartet.

Wir alle haben ja durchaus unterschiedliche Glaubensprägungen und Glaubenswege – aber das „könnte, müsste, sollte“ gibt’s ja vielfältig:
Katholiken kennen die Beichte, die Moral-Forderungen der Kirche, die Verehrung der Heiligen & Glaubensvorbilder.
Reformierte kennen eine ihnen eigene Strenge – sie muss nicht ausgesprochen calvinistisch sein, aber das lutherische „Sündige tapfer!“ ist nicht ihr Credo.
Lutheraner bemühen sich, zwar allein aus Gnade um ihr Heil zu wissen, aber immer wieder zu zeigen, dass ein guter Baum auch gute Früchte zu tragen hat.
Beonders aber kennen all die das „Können, Müssen, Sollen“, die im pietistischen, evangelikalen und charismatischen Bereich des Glaubens ihre Wege gingen und gehen – „Heiligung“ und „Sieghaftes Leben“ sind da angesagt.

Überall aber erscheint die Geschichte vom sinkenden Petrus jedenfalls nicht als frohmachende Botschaft, sondern als Aufforderung, Ermahnung, Vorwurf und Negativ-Beispiel der Kleingläubigkeit:
Hätte er doch.
Und hätten wir doch …

….

Adrian Plass – ein englischer Schriftsteller, Christ und Satiriker – schreibt in seiner Autobiografie „Die steile Himmelsleiter“:
‚In meiner Jugendzeit, nachdem ich nun ein Christ geworden war, vertiefte ich mich gierig in eine Unzahl christlicher Taschenbücher. Sie alle zündeten jedesmal ein Feuer der Begeisterung in mir an, waren voller Zeichen & Wunder – ließen aber mein tatsächliches Leben und meinen Glauben grau und trübe erscheinen. Durchschnittlich zweimal die Woche weihte ich nach dem Lesen mein Leben mit neuer Hingabe Gott – mit all den Verheißungen, um die Schalthebel der Gotteserfahrungen richtig zu bedienen. Etwa der Klassiker „Das Kreuz und die Messerhelden“. Es machte einem eine Zeitlang Mut und verlieh der Welt einen unechten Glanz, aber es hielt nicht lange vor … Aber: Es funktionierte nicht!‘
Es funktioniert nicht – genau wie all die Ideologien der heute so präsentierten und geforderten „Motivations- und Optimierungs“-Angeboten, von denen ich eben sprach …
Bei allen kleinen Fortschritten, die man vielleicht hier und da macht, bei allen Kraftanstrengungen und guten Vorsätzen …
Frust, Ernüchterung, Leere und Ratlosigkeit macht sich wohl breit, wenn wir erleben, dass wir auf der Strecke zwischen unserem schaukelnden Lebensboot und Jesus untergehen und sinken …
Und das kann weh tun.

Eine Zeitlang gab es ja in frommen Kreisen dieses Armband: „Was würde Jesus tun?“ … WWJD … Es war eine Mode unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen.
Die Idee dahinter sollte Ermutigung sein, ein bisschen wie Petrus Glauben zu haben und zu zeigen.
Ich befürchte aber, dass auch das Gegenteil ein Resultat für die Armbandträger war und ist – denn wir sind nicht Jesus.
Was würde Jesus tun?
Vielleicht ein Wunder, etwa übers Wasser gehen.
Aber wir sind nicht Jesus, sondern immer wieder der spätere Petrus, der über sich heulen muss, weil er Jesus dreimal verraten hat.
Schwach und angsterfüllt, wie er war.
Und in bestimmten Situationen untergehend und beschämt.

In unserer Erzählung vom sinkenden Petrus scheint mir jedenfalls wichtig, wahrzunehmen, dass die Idee, selbst übers Wasser zu gehen, ja gar nicht von Jesus ausgeht.
Jesus fordert ihn, den Petrus, von sich aus nicht dazu heraus, aus dem Boot zu steigen.
Jesus erwartet es nicht.
Jesus bittet nicht darum.
Jesus macht keine Anstalten, den Glauben des Petrus durch Wasserlaufen zu testen und herauszufordern.

Es ist Petrus selbst.
So wie wir es immer wieder wissen wollen, uns überschätzen, überfordern, und dann spüren, erleben, erfahren:
Es funktioniert nicht mit den göttlichen Eigenschaften.
Die Füße werden nass, ich sinke, ich schlucke schon Wasser …

Doch wo ist nun in all dem Gesagten das Evangelium, die Frohe Botschaft und das, was uns fröhlicher in die neue Woche gehen lässt?

Es ist die Reaktion Jesu, denn weiter lesen wir – so Vers 31 – : „Jesus aber streckte sogleich die Hand aus und ergriff ihn …“
Und als er sagte: „Du Kleingläubiger, warum hast Du gezweifelt?“, war dies wohl kein Vorwurf, kein „Du hast versagt, schäm Dich, ich hätte mehr erwartet, und bin enttäuscht! Hier hättet Du doch mal vor Deinen Freunden zeigen können, wozu Du mir vertrauend auf vorbildliche Weise in der Lage bist … und ehrlich jetzt, ich bin enttäuscht!“
Nein, so reagiert Jesus nicht.
Sondern eher mit Mitleid gegenüber der Selbstüberschätzung und dem Übermut seines speziellen Freundes Petrus, dessen Charakter er nur zu gut kannte …

Nein, er streckte seine Hand aus, ergriff sie und zog ihn, den gerade Zuviel-Wollenden, heraus.

Für mich ist das heute morgen das Evangelium pur, wenn ich auf mich selber schaue und auf Euch und uns und auf all das, was mir an Diskrepanz begegnet zwischen unserem Wollen und Vollbringen, unseren Wünschen und Versagen, unseren ehrlichen Idealen und unserem tatsächlichen Vermögen bzw. Nicht-Vermögen.

Und deshalb gehört es wohl zu unserer evangelischen Freiheit, barmherzig mit uns zu sein und zu bleiben – mit all unseren Grenzen, unserem Nicht-Vermögen und Scheitern.

Denn aus dem Evangelium der Barmherzigkeit, Liebe und Gnade Gotte können wir nicht herauswachsen wie aus Kinderschuhen.
Ein Leben lang gleichen wir dem Petrus in seiner Selbstüberschätzung, seinem Scheitern und Beschämtsein wohl immer wieder mehr als allen vermeintlich strahlenden Selbstoptimierungs- und Glaubenshelden.

Denn wir beginnen unseren Lebenslauf – wie immer die Stürme, Wellen und Abgründe aussehen – in Gnade.
Ein Leben lang.
Bis zum Ende.
Und die „Moral von der Geschicht’“?
Lasst uns in die neue Woche gehen mit viel mehr Barmherzigkeit uns selbst und Anderen gegenüber.

Und auf den vertrauen, der immer wieder seine Hand ausstreckt, uns ergreift und rauszieht, wo immer wir gerade nasse Füße haben oder uns das Wasser schon bis zum Hals steht.

Amen