Predigt von Henriette Sauppe beim Buschgottesdienst zum Rotter Kinder- und Bürgerfest am 15.09.2024
Gnade sei mit euch und Friede von Gott unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus. Amen.
Liebe Gemeinde, „Seelenverwandte“ nennen wir Menschen, die uns nahestehen. Das müssen keine Menschen sein, mit denen wir wirklich verwandt sind. Seelenverwandtschaft meint oft sogar fast das Gegenteil. Sie trifft man im Laufe eines Lebens. Das tut gut, denn sie denken und fühlen wie man selbst. Seelenverwandtschaften können aber müssen nicht unbedingt Freundschaften sein: Man muss keine lange gemeinsame Geschichte miteinander haben. Für Seelenverwandtschaften reicht eigentlich ein Augenblick – manchmal ganz wörtlich und mit einem Lächeln verbunden – oder leider manchmal auch mit einer Träne.
Die Seele sucht und spürt – Seelenverwandte – ein Zeichen und Blick auf besondere Menschen und kostbare Begegnungen in unserem Leben. Die Seele, was auch immer wir uns darunter im Konkreten vorstellen, ist auch in Verbindung mit Gott. Wünscht sich etwas von Gott. Ruft nach Gott. Braucht Gott. Und dies ganz deutlich in den Versen für die heutige Predigt. Ich lese aus Psalm 16,5-11 (Luther):
„Der HERR ist mein Gut und mein Teil; du hältst mein Los in deinen Händen! 6 Das Los ist mir gefallen auf liebliches Land; mir ist ein schönes Erbteil geworden. 7 Ich lobe den HERRN, der mich beraten hat; auch mahnt mich mein Herz des Nachts. 8 Ich habe den HERRN allezeit vor Augen; er steht mir zur Rechten, so wanke ich nicht. 9 Darum freut sich mein Herz, und meine Seele ist fröhlich; auch mein Leib wird sicher wohnen. 10 Denn du wirst meine Seele nicht dem Tode lassen und nicht zugeben, dass dein Heiliger die Grube sehe. 11 Du tust mir kund den Weg zum Leben: Vor dir ist Freude die Fülle und Wonne zu deiner Rechten ewiglich.“
„Darum freut sich mein Herz, und meine Seele ist fröhlich.“ Da ist es – das Wort Seele. Vielleicht ist dieser Psalm sogar der älteste Bibeltext, der die Seele erwähnt. Aber eben auch nur kurz erwähnt – und nicht genau erklärt, was und wo und wie das nun mit der Seele ist. Denn so selbstverständlich uns Glaubenden das Wort klingt, so wenig können wir es in Worte fassen. Es gibt die Seele auch in anderen Religionen, es gibt die Vorstellung einer Seelenwanderung.
Was ist die Seele? Wo ist die Seele? Kann man die Seele sehen oder spüren? Oder brauche ich sie womöglich nur nach dem Tod, damit sie weiterleben kann? In vergangenen Zeiten versuchte man, die Seele zu wiegen. Dazu wog man sterbende Menschen kurz vor und kurz nach ihrem Tod. Wenn sich zwischen diesen beiden Gewichtsangaben eine Differenz ergab, musste das das Gewicht der entwichenen Seele sein. Man kam mit diesem Verfahren auf Seelengewichte bis zu zwanzig Gramm – und blieb damit im Bereich damaliger Messtoleranzen. So bekommen wir die Seele also ganz bestimmt nicht zu fassen. Heute Morgen wollen wir uns anders an die Seele heranwagen, uns herantasten an das, was wir Seele nennen. Ermutigt durch unseren Psalm! Denn der sagt das, was wir uns wohl alle wünschen: „Darum freut sich mein Herz, und meine Seele ist fröhlich.“
Darum frage ich: Wie geht es denn Ihrer Seele heute Morgen? Sonst frage ich, fragen wir anders. Wie geht es dir, wie geht es Ihnen? Oder konkreter zum Beispiel: Wie geht es Ihren Rückenschmerzen? Oder: Wie geht es Ihren Kindern? Oder: Wie geht‘s im Beruf? Oder gerade wenn wir uns lange nicht gesehen haben: was gibt es Neues? Aber nach der Seele wird selten gefragt – eigentlich sogar nie. Die Seele spüren wir aber oder das, was wir mit ihr zu beschreiben scheinen. Irgendwie und irgendwo steckt sie in uns: deutlich wahrnehmbar. „Seele“, das ist etwas, das wehtun kann, auch wenn das Gesicht lächelt. „Seele“, das ist etwas, das schreien möchte, auch wenn der Mund schweigt. Eine verletzte „Seele“ kann einen gesunden Menschen krank machen. Und umgekehrt: Eine starke „Seele“ kann einen kranken Menschen heilen. Die „Seele“ kann Hoffnung haben, obwohl die Aussichten schlecht sind. Und manchmal weiß die „Seele“ mehr als tausend Argumente.
Die Seele meint dabei aber nicht einen Teil von uns, der vom Körper getrennt werden könnte. So wie die Vorstellung einer unsterblichen Seele. Dieser Dualismus war im griechischen Denken, in der griechischen Philosophie, weit verbreitet. Die Vorstellung, als sei zum Beispiel ein unsterblicher Teil des Menschen von einem sterblichen Körper getrennt. Dem alttestamentlichen Menschenbild, das auch unserem Psalm zu Grunde liegt, ist ein solches Denken fremd. Näpfäsch – so wird die Seele im Hebräischen genannt. Eine bessere Übersetzung als Seele haben wir nicht. Näpfäsch/Seele ist die Lebendigkeit des Menschen im Gesamten. Der Kern, das Allerinnerste ist die Seele nach dem alttestamentlichen Menschenbild. Der gesamte Mensch ist die Seele. Näpfäsch/Seele ist Leben, Lebenskraft, das, was uns lebendig macht.
Also: Wie geht es Ihrer Seele? Wie ist ihre Lebenskraft? Das, was Sie lebendig macht, am Leben erhält? Die Frage nach der Seele ist mehr als ein oft floskelhaft dahingesagtes Wie geht es?! Die Frage nach der Seele impliziert, dass die Seele Sorge braucht. Und eben nicht nur der Rücken, die Kinder, die Arbeit und das Bankkonto. Das für die Seele, für die Lebenskraft, etwas getan werden muss. Dass die Seele angreifbar ist und Schutz braucht. Das kennen wir, wir schützen wir alles, was uns wichtig und wertvoll ist. Und tun viel, um uns vor Gefahren zu schützen. Bei Frostgefahr holen wir die Pflanzen vom Balkon. Den Blutdruck kontrollieren wir regelmäßig. Das Auto bringen wir regelmäßig zur Inspektion. Die Seele braucht Schutz und Pflege, damit sie nicht verkümmert. Damit sie nicht schutzlos allen Gefahren und Belastungen des Alltags ausgeliefert ist. Damit nicht die Lebenskraft schwindet, das sie lebendig bleibt, das sie uns am Leben erhält. Ich fürchte, manchmal lassen wir unsere Seele verkümmern. Manchmal ist die Seele erschöpft. Und das merken wir, wenn auch vielleicht erst nach einiger Zeit. Ja es gibt viel, das die Seele aus dem Gleichgewicht bringen kann. Wie heißt es in den bekannten Worten von Dietrich Bonhoeffer: „Ach Herr, gib unsern aufgeschreckten Seelen das Heil, für das Du uns geschaffen hast“. Ja vieles lässt uns aufschrecken: Krieg und Terror, die Verhärtungen und die Gewalt in unserer Gesellschaft, der Gedanke an die nächsten Wahlen, drohende Naturkatastrophen, persönliche Ängste um Angehörige und Freude, Krankheiten. „Ach Herr, gib unsern aufgeschreckten Seelen das Heil, für das du uns geschaffen hast.“ Denn darum geht es dir doch, Gott, dass du uns am Ende für mehr bestimmt hast, als wir jetzt erfahren müssen?! Dass wir am Ende die Nähe zu dir und die Liebe und den Frieden erleben dürfen – darum geht es dir doch?!
Wenn die Seele unsere Gesamtheit anspricht, unsere Lebendigkeit, unsere Lebenskraft, unser Wesen und Denken – dann braucht die Seele ein Fundament. Ein Mönch in einem Kloster in Ägypten, da war ich 2019 auf Studienreise, hat uns eine einfache Geste gezeigt, die mir in Erinnerung geblieben ist. Drei Finger braucht es. Es ist eigentlich ganz simpel. Der nach oben zeigende Zeigefinger erinnert uns daran, auf Gott zu schauen. Der auf uns zeigende Daumen erinnert auch uns zu schauen. Der zur Seite zeigende Mittelfinger erinnert uns den nächsten wahrzunehmen. Man kann sich das Ganze auch mathematischer wie ein Dreieck vorstellen, aber mit der Hand lässt es sich deutlicher zeigen.
Es ist simpel, es ist für mich das Fundament unserer Seele, aber diese drei sind gar nicht selbstverständlich. Manche verlässigen sich selbst und die eigenen Bedürfnisse, andere verstehen es nicht gut auf den anderen einzugehen, schauen zu viel auf sich selbst. Ja es gibt Zeiten, da leidet das eine oder andere, da schaut man weniger auf sich, weil die Familie oder der Beruf an erster Stelle stehen, aber den Einklang braucht es. Und Gott? Ja für uns ist Gott wichtig, aber wie viele würden die Verbindung in ihrem Leben zu Gott überhaupt nicht mehr ziehen. Die Seele braucht all diese drei. In diesem Sinne sind wir meiner Meinung nach alle Seelenverwandt. Gott tut uns kund den Weg zum Leben. Du zeigst mir den Weg zum Leben. Für all das, was vor mir liegt.
„Ich habe den Herrn allezeit vor Augen“ – so unser Psalm. Ohne Gott geht es nicht. Und im anderen sehr bekannten Psalm lesen wir: „Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, du bist bei mir“ – Psalm 23. Ja, Menschen kennen nicht nur die freudigen und wonnigen Momente, sondern auch die dunklen Täler, die Angst, die Verzweiflung. Auch dann heißt es auf Gott zu zeigen. Du bist bei mir. Du musst bei mir sein. Das hast du zugesagt! „Du wirst meine Seele nicht dem Tode lassen und nicht zugeben, dass dein Heiliger die Grube sehe.“ So möchte ich auch mit Gott rechnen. Im Guten wie im Schlechten. Die Freude und die Fülle aus der Hand nehmen, aber auch Gottes Nähe spüren, wenn das Glück zerbrechen sollte. Ich will in Gutem und Bösen, das mir geschieht, verbunden bleiben – mit Gott, mit mir und mit meinen Lieben. Daran erinnert mich dieses Handzeichen. Denn ja, das ist das Leben, das du, Gott, uns schenkst: ein Leben voller Freude und zugleich endlich, zerbrechlich, begrenzt. Weil es so begrenzt und zerbrechlich ist, sind die Momente der Freude und Zufriedenheit umso wichtiger. Weil du, Gott, immer noch da bist.
„Du tust mir kund den Weg zum Leben: Vor dir ist Freude die Fülle und Wonne zu deiner Rechten ewiglich.“ Ich wünsche, dass unsere Seele immer wieder darauf vertraut.
Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus.
Amen.