Evangelisch
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Frieden – schon jetzt

Predigt zu Micha 4,1-4 von Pfarrerin Michaela Kuhlendahl (Sonntag, 10.11.2024)

Liebe Gemeinde,
der Predigttext für den heutigen Sonntag steht im Buch des Propheten Micha, ein Text, der Ihnen vermutlich vertraut ist und der manche von uns besonders in der Hoch-Zeit der Friedensbewegung in den 90er Jahren begleitet hat:

Micha 4,1-4: Und es wird sein am Ende der Tage, der Berg SEINES, Gottes Hauses, ist fest gegründet auf dem Gipfel der Berge und erhoben ist er über den Hügeln, und es werden zu ihm hinauf Nationen strömen. Viele Völker werden sich auf den Weg machen und sagen: Machen wir uns auf den Weg und ziehen wir hinauf auf SEINEN, Gottes Berg und zum Haus des Gottes Jakobs, und er lehre uns von seinen Wegen, und wir wollen gehen auf seinen Pfaden, denn vom Zion geht Weisung hervor Und SEIN, Gottes Wort, von Jerusalem. Und er wird zwischen vielen Nationen richten, ausgleichen unter mächtigen Völkern bis in die Ferne, und sie werden in Stücke schlagen ihre Schwerter zu Pflugscharen, und ihre Speere zu Winzermessern. Nicht wird ein Volk gegen das andere das Schwert erheben und sie werden nicht weiterhin den Krieg lernen. Und sie werden sitzen: Ein jeder unter seiner Weinrebe und unter seinem Feigenbaum und keiner schreckt auf. Ja, der Mund Zebaoths hat gesprochen. Denn alle Nationen gehen, jeder im Namen seines Gottes, doch wir gehen in SEINEM, unseres Gottes Namen, auf Weltzeit und Ewigkeit.

Das ist inhaltlich gewaltiger Text. So erfreulich es ist, dass dieser alte Text praktisch nichts von seiner Botschaft verloren hat – nämlich dass wir die Waffen zu Pflügen umschmieden sollen – so erschreckend ist es wiederum, dass dieser Aufruf aus dem 8. Jahrhundert vor Christi, mehr denn je aufrüttelnd und aktuell in unsere Zeit hineinspricht.

Und würden wir unser Augenmerk allein auf diesen Satz richten, nämlich die Schwerter in Stücke zu schlagen, um daraus nützliches Werkzeug zu schmieden, dann wäre diese Predigt schnell erzählt:

Denn dass wir als gläubige Menschen mit Respekt vor Gottes Schöpfung und dem in ihr wohnenden Lebens Gewalt und Krieg nicht gutheißen können, gebietet jede Ethik, egal welchen Glaubens. Wäre es so einfach, würde unsere Welt anders aussehen und jüdische, christliche, muslimische, buddhistische und andere Friedensethiken hätten sich durchgesetzt. Allein die vielen brennenden Kriegsherde dieser Welt so wie politische Drohgebärden erzählen eine andere Geschichte.

Und die Gedanken des Propheten Micha sind so fein und differenziert, dass es sich lohnt, seine Botschaft und auch die Möglichkeiten, diese zu erfüllen, genauer zu betrachten. Gleich der erste Satz wartet mit einem großen Versprechen auf: Und es wird sein am Ende der Tage, der Berg SEINES, Gottes Hauses, ist fest gegründet auf dem Gipfel der Berge…

Es wird sein am Ende der Tage – was ist damit gemeint? Das große Weltgericht? Oder etwas, das schon jetzt in unsere Weltzeit hineinragt, ähnlich wie die Gedanken zum Reich Gottes, das schon jetzt und noch nicht da ist. Wenn im Hebräischen vom Ende der Tage gesprochen wird, haben wir auch die Möglichkeit es mit der „Rückseite“ der Tage zu übersetzen. Das ist ein hilfreiches Bild, denn dann wäre die Vorderseite der Tage unsere Wirklichkeit, zuerst die Wirklichkeit zur Zeit des Propheten Micha.

Seine Realität, welche von den Folgen des zerfallenen Reiches und des zerstörten Tempels geprägt war, von assyrischer Bedrohung. Vor allem aber war seine Zeit geprägt von Armut und Ungerechtigkeit. Menschen auf dem Land hatten miserable Lebensbedingungen, weil sie von einer reichen Oberschicht versklavt wurden, Land und Ernte verloren. Und daher ruft der Prophet Micha nicht nur zum waffenfreien Zusammenleben auf, sondern er nimmt auch die Ursachen für den Kreislauf von Gewalt und Vertreibung in den Blick. Er mahnt in seiner gesamten Schrift die Zeitgenossen, Menschen nicht auszubeuten und allen eine auskömmliche Lebensgrundlage zu gewähren. Denn nur so kann es im Namen Gottes gewollt sein. Und die Rückseite der Tage, eben an jenem Ende der Tage, lassen Micha schon jetzt schauen, wie es sein kann: Dass jeder Mensch ohne Not und Angst unter seinen Weinreben und seinen Feigenbäumen sitzen kann. Dass niemand das Kriegshandwerk lernen muss, dass niemand einen anderen Menschen töten muss.

Die Rückseite der Tage gibt seiner Sehnsucht von einem friedlichen Zusammenleben ein Gesicht. Dabei trägt ihn die Vision, dass unsere Weltzeit und Gottes Ewigkeit zusammenfließen: Denn am Ende sieht Micha die unterschiedlichsten Menschen zusammen auf den Berg Gottes ziehen, Denn alle Nationen gehen, jeder im Namen seines Gottes, doch wir gehen in SEINEM, unseres Gottes Namen, auf Weltzeit und Ewigkeit. Der Prophet hat die Gabe, beides zu sehen, die jetzige Weltzeit und die versprochene Gotteszeit. Er streift sie schon jetzt und traut allen empfänglichen Menschen zu, in gewisser Weise zweizeitig zu leben, mit einem in uns tief verankerten Wissen um einen allumfassenden Frieden – schon jetzt.

Und der Weg dahin ist spannend. Denn ich entnehme seinen Versen ein Ringen um eine Orientierung, um eine Ethik, die universell gültig sein könnte: Er beschreibt, wie die Völker sich aus eigener Motivation aufmachen und sagen: Machen wir uns auf den Weg und ziehen wir hinauf auf SEINEN, Gottes Berg und zum Haus des Gottes Jakobs, und er lehre uns von seinen Wegen, und wir wollen gehen auf seinen Pfaden, denn vom Zion geht Weisung hervor Und SEIN, Gottes Wort, von Jerusalem.

Der Prophet blickt über die Zerstörung seines Landes und die sozialen Missstände seiner Zeit hinaus und sieht als Bild, dass Gott wieder eine Wohnstätte hat. Nicht der Tempel ist es, sondern auf dem Zion wird er wohnen und Orientierung geben. Und dabei entwickelt er ein fast unbeschwertes Bild, dass die unterschiedlichsten Völker zu ihm hinaufströmen, wie ein lebendiger großer Fluß, dass sie neugierig hören wollen, was diese Weisung Gottes bedeutet. Dabei ist es möglich, dass jedes Volk im Namen seines eigenen Gottes dorthin zieht, wie er es vorher ausdrückt. Ich verstehe das wie eine Gemeinschaft unterschiedlicher Religionen, die da unterwegs ist. Friedlich und offen sind sie auf der Suche nach Lebens- und Glaubenshilfe, nach einem ethischen Halt. Auch wenn für den Propheten das Wortes SEINES Gottes allumfassend gültig ist, so klingt seine Vision offen und einladend: Der Zion nimmt alle Menschen auf, den Menschen jüdischen Glaubens gibt er Heimat, die anderen Völker pilgern mit und prüfen dabei ihre eignen Identitäten.

Dieser Text hat dazu geführt, dass ich mich an eine Tagung erinnerte, welche ich früher regelmäßig besuchte: Auf einer internationalen Konferenz von Juden, Christen und Muslimen kamen Menschen aus aller Welt zusammen, in dem kleinen Ort Bendorf nahe Neuwied. Die Tagung fand jährlich statt und so entwickelte sich fast ein etwas familiäres Gefühl, wenn man im Folgejahr wieder auf vertraute, aber auch neue Menschen traf. Es gab dabei zwei Besonderheiten: Die eine war die besondere Stimmung, die entstand, wenn Muslime aus Südafrika, Libyen oder dem Libanon auf Juden aus Weißrussland, den vereinigten Staaten und Großbritannien auf Christen aus Deutschland, Frankreich oder Ghana und vielen anderen Ländern zusammentrafen. Es war eine Ansammlung überwiegend meinungsstarker, aber liberaler Menschen, Studierende, Menschen mit allen Berufen, sozial Engagierte und in jedem Fall religiös hochmotivierte Menschen.

Doch immer lag viel Spannung in der Luft, oft haben wir gerungen, wenn unsere religiösen Identitäten aufeinanderprallten, wenn diskutiert wurde, wo wir in der Wahrnehmung der je anderen Religionen achtsam sein sollten, wie die Rolle von Männern und Frauen in den unterschiedlichen Religionen aussah, wo Abgrenzung wichtig war, wo Gastfreundschaft möglich und wo oft auch Versöhnung nötig wurde. Wenn eine Muslima aus Palästina auf den amerikanischen jüdischen Nachfahren des Holocausts traf, wenn der muslimische Sheik, der die lybische Todeszelle überlebt hatte, auf den anglikanischen Priester Nordenglands traf, dann war das eine hochbrisante Mischung – aber immer begegneten sich die Menschen mit Achtung. Denn es war ein Gedanke, der uns alle verband:

Niemand von uns hat Anspruch auf die religiöse Wahrheit, niemand maß sich an, von Gott zu wissen, dass seine oder ihre Religion die richtige Ausformung von Gottes Willen und Weisung ist. Und diese offene Haltung hat ungeheuer viel Begegnung und Wertschätzung füreinander ermöglicht.

Die zweite Besonderheit: Wir haben alle religiösen Feste zusammen gefeiert. Und zwar wirklich zusammen gefeiert, wir haben nicht nur am Rand zugeschaut. Beim muslimischen Freitagsgebt haben wir als Männer und Frauen zusammen gebetet, beim jüdischen Shabbat gemeinsam den Texten der Tora zugehört und den Kiddusch beim Sabbatritual empfangen, im christlichen Gottesdienst gemeinsam gebetet und das Agapemahl gefeiert. Spätestens in unseren gemeinsamen Feiern entstand etwas ungemein Versöhnliches, denn es wurde notwendig sich zu erklären: nämlich was wir feiern, was uns besonders heilig ist, was wir teilen können. Und es hat uns allen abverlangt, all das, worin wir uns vorher nicht einig geworden waren, beiseite zu legen, es ruhen zu lassen unter den friedensstiftenden Segen Gottes zu stellen. Genauso stelle ich mir die Völkerwallfahrt vor, die Micha beschreibt. Und ich glaube, es gibt an so vielen Orten dieser Welt auch heute solche Ereignisse, wo Menschen sich in ihrer religiösen Empfindsamkeit und mit den schmerzvollen Schicksalen ihrer Familien aufeinandertreffen. Als scheinbar verfeindete Völker, aber doch in der Lage, sich als Menschen anzusehen. Das geschieht autonom in Dörfer und Städten und in Friedensprojekten in Israel und Palästina, in der Ukraine und Rußland, in Myanmar, in Sudan… – und davon wird viel zu wenig erzählt, von jenen Ereignissen, wo Menschen auf die tatsächlichen Waffen, aber auch auf die Waffen der erniedrigenden Worte und Demütigungen verzichten.

Der Künstler, Dichter und Filmemacher Jean Cocteau, selbst früh mit dem Tod seines Vaters konfrontiert, sagte einmal: Den Verstorbenen werden die Augen sanft geschlossen, uns Lebenden müssen die Augen sanft geöffnet werden.

Das ist eine wunderbare Erinnerung: Mit Radikalität werden Menschen nicht zum Frieden bewegt. Wohl aber mit Sanftmut. Und mit Öffnung. Jesus hat sie uns gelehrt, durch seine Haltung, mit dem Erbe der Bergpredigt, durch seinen Tod.

Ghandi hat sie uns gelehrt mit seinem Pazifismus. Die friedliche Revolution in der DDR hat sie uns gelehrt. Menschen können mit Sanftmut und Beharrlichkeit ungeheuer viel bewegen. Und wie nötig ist es, dass uns Lebenden, vor allem den politisch Verantwortlichen sanft die Augen geöffnet werden. All die Waffen, welche bei uns in Deutschland und anderswo hergestellt werden, um der Ukraine solidarisch zu helfen, sie werden am Ende zerstören und Menschen töten. All die Waffen, welche zur Verteidigung und zur Vergeltung in Israel und Palästina eingesetzt werden, sie werden Menschen töten und Lebensgrundlagen zerstören. Das sanfte Öffnen der Augen von uns Lebenden kann uns vielleicht befähigen, beharrlich auf Gespräche und Verhandlungen zu drängen. Die geöffneten Augen lassen uns erkennen, wo wir selber Verzicht üben müssen, um nicht anderen Menschen weltweit ihre Lebensgrundlage zu entziehen. Es kann uns helfen, uns nicht als Träumer oder linke Extremisten abwerten zu lassen, sondern sanft aber beharrlich die Sehnsucht nach Frieden wachsen zu lassen. Der Schmerz unserer Welt wird immer größer und vernichtet so viel Leben, umso notwendiger scheint es mir, in unserer Weltzeit zweizeitig zu leben: Auf der Suche nach Gotteszeit, ihre Zeichen hier wahrzunehmen und uns von ihr leiten zu lassen. Damit Menschen weltweit ohne Not und ohne Schrecken unter ihren Weinreben und Feigenbäumen ruhen können.

Amen.

10. Nov. 2024, Michaela Kuhlendahl
Pfarrerin im St.Petrus-Krankenhaus