Evangelisch
in Unterbarmen

Gemeinsam. Glauben. Leben.

„Die Gedanken sind frei“

Predigt von Dr. Sabine Zoske zu Sacharja 9,9+10 (20.12.2020 – 4. Advent)

Liebe Gemeinde!

Eines meiner lieblingsgehassten Volkslieder ist „Die Gedanken sind frei.“ Natürlich schmettere ich es bei den seltenen Gelegenheiten, zu denen es mal gesungen wird, lauthals mit – aber eigentlich kann ich es überhaupt nicht leiden. Es ist so typisch deutsch in seiner politischen Innerlichkeit. Wie schön, wenn die Gedanken frei sind – aber was nützt das, wenn man sie nicht aussprechen darf? Wenn es keine Meinungs- und Pressefreiheit gibt? Wenn man für offen ausgesprochene Gedanken ins Gefängnis wandert? Also: Eine schöne Melodie und wohlgesetzte Worte, sicher auch immer wieder Trost und Stütze und Trotzlied für diejenigen, die nicht frei sprechen konnten und können – aber letztlich eben nicht geeignet, die Fesseln zu sprengen und die Gefängnisse zu öffnen, und deshalb ganz und gar nicht mein Lieblingslied …

Mit Zion hingegen kann ich mich freuen, und mit der Tochter Jerusalem kann ich aus voller Kehle jauchzen! Denn da passiert wirklich etwas! Wenn da der König kommt, wenn da der Messias einzieht, dann kommt da ein Armer, der dennoch die Macht hat zu helfen, dann zieht die Gerechtigkeit mit ein. Und: Dann kommt einer, der Frieden bringt. Nicht ein allgemeines liebliches Eiapopeia, das alle Konflikte zudeckt und unter dessen Harmoniemantel alle so tun können, als gäbe es keinen Streit. Und keinen bloß innerlichen Frieden, in dem ich mich mit mir selber wohlfühlen und vergessen kann, was sich um mich herum abspielt, kein Wellnessprogramm fürs Herzensstübchen. Und das mitten in die Zeit, die wir gerade erleben müssen, diese wirklich bleierne Zeit, die uns erschöpft und zermürbt. Erschöpft und zermürbt sind wir, glaube ich, so gut wie alle. Erschöpft und zermürbt von den vielen Ge- und Verboten, mit denen wir seit März leben müssen. Von Laschet Hüh und Laschet Hott, von Söder streng und Söder huldvoll mild, von Schwesig bockig und Ramelow zickig – und überhaupt von dieser ganzen Ministerpräsidentenriege, die Konrad Adenauer mal als „Zaunkönige“ bezeichnet hat, mittlerweile ist mir klar, warum. Zu Frau Gebauer sage ich mal nichts … Erschöpft und zermürbt sind wir auch von dieser seltsamen und bedrohlichen Mischung aus „Covidioten“ und Besserwisserinnen und Esoterikern und Verschwörungsgläubigen und Nazis und links-grünen Antisemiten, die sich da zurzeit auf unseren Straßen herumtreiben und gegen alles demonstrieren, was doch vernünftig ist. Erschöpft und zermürbt von der ständigen Wachsamkeit, mit der wir auf unsere Grundrechte achten müssen, auch wenn wir die verordneten Maßnahmen mittragen und überzeugt davon sind, dass sie richtig und notwendig sind – ich zumindest bin das und finde das. Und mache mir trotzdem Sorgen; das kann man nämlich auch tun, ohne sich der „Koalition seltsam“ anzuschließen, die ich eben geschildert habe. Erschöpft und zermürbt schließlich von den vier schrecklichen Trumpjahren, die nun zu Ende zu gehen scheinen – aber freuen können wir uns kaum, weil wir andauernd gebannt auf das starren, was er sich nun wieder ausdenken könnte, um gegen die Entscheidung der Wähler*innen im Amt zu bleiben.All das, so sagt uns Gott durch den Propheten Sacharja zu, soll mit dem Kommen des Königs enden.Und das auf ein Wort, eine Geste hin! Er gebietet – nicht Unterwürfigkeit und Kriecherei, sondern Frieden und Gerechtigkeit. Da hat einer die Macht und traut sich, sie zu benutzen. Und er benutzt sie zum Guten. Das hat vor ihm und nach ihm kaum ein König getan, und darum sollten wir das monarchische Bild auch mit ein bisschen Misstrauen betrachten. Aber bei aller und allerhöchster Wertschätzung der Demokratie und der Mühen der Ebene – wie wäre das schön, wenn er endlich käme und dazwischenführe und dem Hass und der Gewalt und der Ungerechtigkeit und der Anmaßung und – der Dummheit ein Ende machte, monarchisch hin oder her! Ja, meine Sehnsucht nach diesem König ist groß!Sie ist auch deshalb so groß, weil er so kommt, wie er kommt. Ich habe eben gesagt: „Da hat einer die Macht und traut sich, sie zu benutzen.“ Und ja, ich weiß, dass es in den Psalmen immer wieder heißt „Er übt Gewalt mit seinem Arm.“ Aber es kommt doch entscheidend darauf an, wie eine/einer seine/ihre Macht und Gewalt ausübt. Und dieser König tut das eben nicht so, wie die Mächtigen dieser Welt das so gut wie immer machen. Zu den Armen gehört er, besser vielleicht: zu den Demütigen, von denen Jesus von Nazareth sagt, dass ihnen das Himmelreich gehört, die zukünftige Welt, die, Gott sei Dank, so anders sein wird als diese, in der wir leben. EinGerechter ist er, der diejenigen satt macht, die nach Gerechtigkeit hungern und dürsten. „Sanftmütigkeit ist sein Gefährt“, haben wir eben von ihm singen lassen (Corona!) – und den Sanftmütigen wird bekanntlich das Erdreich gehören. Kurz: Er kommt genau so, wie wir in unserer zerrissenen, gewaltstrotzenden, Welt voller Ungerechtigkeit brauchen, mit dieser sanften Unwiderstehlichkeit, die so gar nichts von dem Kitsch hat, in dem sich manche Friedensbewegte heute noch ergehen und damit doch nur zeigen, wie sehr sie in den Achtziger Jahren steckengeblieben sind, als ich selber zu ihnen gehörte – aber man kann ja dazulernen, wenn man das will … Jesus selbst hat ja auch einmal, bei der Anfrage des Täufers, ob er denn der Richtige sei, die Kennzeichen aufgezählt, an denen zu erkennen ist, dass die Zeit des Messias gekommen ist, Kennzeichen, wie sie schon Jesaja be-schrieben hat. Und da geht es überhaupt nicht weihnachts- und friedenskitschig zu. Vielmehr wird die Welt, wie wir sie kennen, schlicht auf den Kopf gestellt, sozial wie politisch. Wenn der Messias kommt, dann wird um uns herum alles anders, sämtliche Verhältnisse, in denen wir uns im Guten wie im Bösen doch irgendwie eingerichtet haben, werden sich ändern. Und, wie gesagt das ist bitter nötig! Und: Es ist immer noch ein paar Nummern größer als alles, womit wir uns im Augenblick beschäftigen, gut so!Kein Kitsch also, keine faule Besinnlichkeit. Der Messiasmacht sich Arbeit. Er räumt weg, er zerbricht, er gebietet,er öffnet verschlossene Augen und Ohren, bringt die Lahmen ans Laufen, die Abgestorbenen und Stumpfsinnigen ans Leben und Mitfühlen, den Armen die gute Botschaft: Ich bin da, ich gehöre zu euch, und ich stehe auf eurer Seite. Das alles mit der berühmten Macht der Ohnmacht, die überhaupt nicht faul und lahm und blind und taub ist, sondern äußerst tätig und beweglich und hellsichtig und aufmerksam. Und übrigens: Er wird auch Co-rona die Zacken aus der Krone brechen, eines Tages. „Eia, wär’n wir da“, möchte man mit einem schönen Weihnachtslied singen, genauer: „Eia, wär‘ ER da.“ Damit bin ich wieder bei dem, wovon ich schon öfters im Advent zu Ihnen gesprochen habe, bei diesem drängen-den, sehnsuchtsvollen Warten, das Gott in den Ohren liegt und Politik und Wirtschaft an die Fenster klopft und beide daran erinnert, dass da noch etwas aussteht, das was nur Gott tun kann, und das, was Menschen tun müssen. Bei diesem Warten, das manchmal so schwer auszuhalten ist, weil es doch einfach nicht so bleiben darf, wie es ist, und – das sich an die Bibel hält und deshalb weiß, dass es auch nicht so bleiben wird, wie es ist. Jedes Jahr vor Weihnachten stehen wir im Grunde an diesem Punkt, der, ich sprach eben davon, schon Johannes dem Täufer so bedeutsam war, dass er aus dem Gefängnis heraus nichts Wichtigeres zu fragen hatte als sein „Bist du es, der da kommen soll, oder sollen wir auf einen anderen warten?“ Denn wir Christinnen und Christen glauben ja, dass Jesus von Nazareth, dessen Geburt wir an Weihnachten feiern, der war und ist, der da kommen sollte. Es ist eigentlich, glauben wir, schon alles passiert, was die Welt braucht, um eine andere zu werden. Nur: Man sieht es ihr nicht an, wirklich und wahrhaftig nicht! Es ist diese Spannung zwischen „Schon da“ und „Noch nicht“, die uns immer wieder in Atem hält und die immer wieder so schwer auszuhalten ist. Aber mit ihr leben wir. Und sie hält uns im Grunde auch lebendig, denn sie weist uns darauf hin, dass es nicht reicht, alles dem Kommenden zu überlassen, sondern dass auch wir et-was zu tun haben, während wir warten. Sie mahnt uns daran, dass es während dieser Wartezeit an uns ist, diese Verhältnisse, in denen wir uns im Guten wie im Bösen doch leider irgendwie eingerichtet haben, wenigstens erträglicher zu machen und so das Kommen des Königs vorzubereiten.Und wenn er dann kommt – oder wiederkommt, wie wir Christinnen und Christen glauben, dann bekommen wir, erstens, endlich die Antwort auf die Frage, ob er schon-mal da war. Und, zweitens, wird dann all das passieren, wovon Sacharja spricht und was Ephraim und Jerusalem und die ganze Gegend vom Euphrat bis an die Enden der Erde so nötig hat – und da wir inzwischen wissen, dass das Ende der Welt nicht in der Gegend von Gibraltar liegt, wird es dann wirklich die ganze Welt sein, die sich mit Zion hingegen freuen kann, und mit der Tochter Jerusalem aus voller Kehle jauchzen wird – coronafrei! Amen.