Interview mit Kantor Dr. Matthias Lotzmann
Thomas Fuchs: Lieber Matthias! Wir kennen uns schon länger durch verschiedene gemeindliche Bezüge in Wuppertal, unter anderem auch durch die immer wieder erfolgte Unterstützung der Bergischen Kantorei seitens der Stiftung Netzwerk Unterbarmen. Aufgrund der Kooperation mit unserer Gemeinde möchte ich Dich nun interviewen. Ich beginne weit zurück. Wann hast Du als Kind wahrgenommen, dass Du hochmusikalisch bist?
Matthias Lotzmann: Früh, schon im Grundschulalter, habe ich bemerkt, dass Musik in meinem Leben etwas Besonderes ist; später das Wichtigste wurde; einen Raum bietet, in dem man Gemeinsamkeit und Gemeinschaft im Zusammenwirken erlebt, in dem man Orientierung und Ausrichtung gezeigt und geschenkt bekommt. Und es ging alles sehr leicht von der Hand: Trompete, Fagott, Klavier und die Orgel waren schon in der Schulzeit meine Favoriten. Das Singen im Chor, das Musizieren im Posaunenchor wurde zu einer geliebten Normalität und dann natürlich der Beginn des eigenen Organistendienstes mit 14 Jahren, im Konfirmandenalter. Den nicht problemfreien Begriff „hochmusikalisch“ möchte ich ersetzt wissen durch: „Leben in und durch die Musik“ – und dann gibt man eben gern alles in sein Fortschreiten auf diesem Weg hinein.
T. Fuchs: Wie sind Deine Eltern damit umgegangen?
M. Lotzmann: Meinen Eltern ‒ nicht sonderlich musikalisch ‒ war das durchaus unheimlich, wenngleich in manchen Situationen auch Stolz mitschwang (Konzertauftritte, Zeitungsberichte etc.). Aber mein Lebensmittelpunkt war früh die musikalische Gemeinschaft in der lutherisch geprägten Kirchengemeinde und erst an zweiter Stelle das Elternhaus und die Familie.
T. Fuchs: Wie war Dein Werdegang und seit wann bist Du in Wuppertal als Kirchenmusiker tätig?
M. Lotzmann: Studiert habe ich an der Musikhochschule Detmold, dann in Köln und Münster, zuletzt an der dortigen Westfälischen Wilhelms-Universität. Ich durfte so eine fast zehnjährige umfassende musikalische Ausbildung in Gesang, Klavier, Orgel, Chor- und Orchesterleitung sowie Musikwissenschaft erfahren. Die Regelstudienzeit gab es noch nicht so wie heute – was für ein Glück! Die Diplome in diesen Fächern beinhalteten mehr als die heutigen Masterprüfungen. Seit dem Studium hatte ich verschiedene Dozenturen an Hochschulen in NRW inne (Klavier, Chordidaktik, Liturgisches Orgelspiel, Musikwissenschaft, Korrepetition), zuletzt an der Folkwang Universität der Künste in Essen. Kirchenmusiker in Wuppertal bin ich seit 1993.
T. Fuchs: Zurzeit scheint Dein Hauptprojekt „Dietrich Buxtehude“ (* ca. 1637, † 1707) zu sein. Wie kam es dazu?
M. Lotzmann: Das Buxtehude-Projekt steht neben meinen Reihen „Mit Bach durchs Jahr“, den Barmer Bach-Tagen und den zwölfmal im Jahr erklingenden „Wupperfelder Abendmusiken“. In der langen Beschäftigung mit dem Werk Johann Sebastian Bachs trifft man immer wieder auf die Gestalt „Dietrich Buxtehude“, ein wie aus dem Nichts in das Licht der Öffentlichkeit tretender Komponist des Barock. Keiner weiß, woher er kam und wo er lernte. Aufgrund seiner biographischen Nähe zu Bach ist er in den vergangenen Jahrzehnten seit seiner „Wiederentdeckung“ stets als ein Vorläufer oder noch schlimmer als ein „Kleinmeister“ betrachtet worden. Dass es eine nicht minder geniale, aber eine vollkommen andere Musiksprache ist, die den Wahl-Lübecker ausmacht, hatte man nicht Blick. Seine Erlebnistiefe, seine schier unerschöpfliche Formensprache und seine besondere theologische Ausrichtung sind spannend und wert, gezeigt zu werden. Buxtehude begeistert. Deshalb führen wir in ökumenischer Zusammenarbeit in 30 Konzerten sein gesamtes Orgelwerk, zahlreiche Kantaten, Kammermusiken und Oratorien auf. Und als einen Höhepunkt bieten wir eine Studienfahrt nach Lübeck an (21.-24.9.2023 ‒ melden Sie sich gern an, es sind noch Plätze frei) zur dortigen Marienkirche, der Wirkungsstätte Buxtehudes.
T. Fuchs: Wir in Unterbarmen freuen und erfreuen uns an der offensichtlich guten Zusammenarbeit mit Jens-Peter Enk. Wie kam es dazu?
M. Lotzmann: Es kam schon vor einigen Jahren eine Zeit, in der das voneinander Hören dem miteinander Sprechen und Arbeiten gewichen ist. Angesichts der sich stark verändernden Bedingungen in unserem Beruf kann man nur sagen: Gott sei Dank! Denn es stellte sich je länger je mehr heraus, dass unsere fachliche Zusammenarbeit und auch die verwandte Struktur unseres Arbeitens (Selbstorganisation) aufs Beste harmonieren. (Stilistisch vielsprachig sprechen wir strukturell und professionell eine Sprache des quasi blinden Verstehens.) Ich möchte es für die letzten Jahre meiner beruflichen Tätigkeit nicht mehr missen. Es ist wahrlich eine gelebte „Weggemeinschaft“. Es ist wunderbar, dass es da keinerlei Konkurrenz-, sondern nur Ergänzungsdenken gibt, ein gegenseitiges wertschätzendes Miteinander, in dem sich die unterschiedlichen Schwerpunkte und Begabungen auf das Vortrefflichste ergänzen; zu unsrer beider Freude und zum Nutzen derer, für die wir und mit denen wir arbeiten. Es ist einer der seltenen Fälle, in der aus professioneller Kollegialität Freundschaft wurde. Und die Willkommenskultur in Unterbarmen tut ein Übriges und ist ein Geschenk.
T. Fuchs: Hast Du noch andere musikalische Schwerpunkte außer der sogenannten Klassischen Musik?
M. Lotzmann: Ich bin ein „alter“ passionierter Jazzer und mag Soul und habe mich während meines Studiums als Nicht-BAFÖGler damit über Wasser gehalten. Kennen Sie Nina Simone – My Baby just cares for me (1957)? Hören Sie mal wieder rein …
T. Fuchs: Wie siehst Du die Zukunft der Kirchenmusik in Kirche und übriger Gesellschaft, und was wünschst Du Dir besonders für Wuppertal und unsere Gemeinden?
M. Lotzmann: Leider bin ich hinsichtlich dieser Frage kein Optimist. Denn es gibt eine Krise der Kirchenmusik nur deshalb, weil es eine Krise unserer Kirche an sich gibt! Ich halte die noch existierende vitale kirchenmusikalische Arbeit in den Gemeinden für eines der wichtigen Überlebensinstrumente für die Kirche, die es nicht abzubauen, sondern zu entwickeln gilt. Die Gemeinde muss im Gottesdienst ihren „Mund“ behalten! Wo da eine Musik ihren Ort finden kann, die sich ihrer geschichtlichen und liturgischen Wurzeln nicht schämt (heute abwertend „traditionell“ genannt), wird sich alsbald herausstellen. Wenn der nachwachsenden Generation diese Bezüge und Stränge aus vermeintlich theologischen und/oder geschmacklichen Gründen systematisch vorenthalten werden, muss man sich nicht wundern, wenn der kirchenmusikalische Nachwuchs ausbleibt, sowohl im Amt als auch in den Gruppen, Orchestern und Chören. Kirchenmusikalische Arbeit gehört in qualifizierte und professionelle Hände. Persönliche Empathie und wechselhafte Begeisterungsstürme ersetzen keine einzige Institution. Davon ab sehe ich in Wuppertal mittelfristig eine lebensfähige kirchenmusikalisch professionelle Struktur neben der verfassten Kirche. Die schon seit langem so arbeitenden Kantoreien im Tal, die Barmer Bach-Tage etc. zeigen dieses schon heute. Diese Tendenz wird sich, nicht nur aus dem Grund wirtschaftlicher Zwänge verstärken.
T. Fuchs: Magst Du uns noch Hobbys oder anderes Persönliche von Dir mitteilen?
M. Lotzmann: Zeitung lesen (ich verrate nicht, welche), Kunstausstellungen zum Thema Expressionismus besuchen, Geschichte der Geschichte(?!?), Schwimmen.
T. Fuchs: Ich danke Dir für Deine Antworten und wünsche Dir und uns eine weiterhin fruchtbare Zusammenarbeit.