Evangelisch
in Unterbarmen

Gemeinsam. Glauben. Leben.

„Geh aus, mein Herz, und suche Freud“

Predigt von Prof. Dr. Hellmut Zschoch (Sonntag, 20.06.2021) über das Lied „Geh aus mein Herz und suche Freud” zum Beginn der Sommerzeit

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen. Amen.

Sommer, liebe Gemeinde! Was haben wir uns nach ihm gesehnt in den kalten und nassen Frühlingswochen! Wie haben wir ihn erwartet wie ein Licht am Ende des Tunnels der Coronazeit! Wie gerne haben wir mitten im Winter die Botschaft gehört: Der Sommer wird sehr gut! Und das aus dem Mund eines Experten – und zwar eines der eher für vorsichtige Prognosen bekannt ist. Und jetzt ist er da, der Sommer, unverkennbar – mit Sonne, mit Hitze, und auch mit drohenden Gewittern, Sommer mit allem, was dazugehört also. Was wird das für ein Sommer? Wird er tatsächlich sehr gut? Ein Sommer, in dem sich die Türen nach draußen öffnen? Öffnen für Begegnungen und Feiern. Öffnen für Veranstaltungen und Reisen? Jede und jeder hat eigene Bilder von einem guten Sommer im Kopf. Werden sie Wirklichkeit? Obwohl doch auch der Schatten der Sorge über diesen Bildern liegt? Da ist doch die Sorge, dass der Sommer nur das Vorspiel sein könnte für die nächste Welle der Pandemie, ein Licht am Ende des Tunnels – und zugleich das Licht vor dem nächsten Tunnel. Die Sorge, dass alles Öffnen und Lockern zu schnell kommt, dass das Virus zurückschlägt und als gefährlichere Mutante zurückkehrt? Und da bleibt doch der andere, noch schwärzere Sorgenschatten über diesem Sommer: der Schatten des Klimawandels, extreme Trockenheit, extreme Starkregen, Vorboten einer Katastrophe für Mensch und Natur. Was wird das für ein Sommer, liebe Gemeinde? Wir wissen es nicht, natürlich nicht. Eine Frage ohne Antwort. Ich stelle lieber eine einfachere Frage: Wie gehen wir in diesen Sommer? Wie gehe ich in diesen Sommer? Das ist eine Frage, auf die es eine Antwort geben könnte. Um eine Antwort zu finden, nehme ich ein Lied zu Hilfe: „Geh aus, mein Herz“ von Paul Gerhardt. Wir singen zunächst die Strophen 1-3+8: 1. Geh aus, mein Herz, und suche Freud / in dieser lieben Sommerzeit an deines Gottes Gaben; / schau an der schönen Gärten Zier / und siehe, wie sie mir und dir / sich ausgeschmücket haben. 2. Die Bäume stehen voller Laub, / das Erdreich decket seinen Staub / mit einem grünen Kleide; / Narzissus und die Tulipan, / die ziehen sich viel schöner an / als Salomonis Seide. 3. Die Lerche schwingt sich in die Luft, / das Täublein fliegt aus seiner Kluft / und macht sich in die Wälder; / die hochbegabte Nachtigall / ergötzt und füllt mit ihrem Schall / Berg, Hügel, Tal und Felder. 8. Ich selber kann und mag nicht ruhn, / des großen Gottes großes Tun / erweckt mir alle Sinnen; / ich singe mit, wenn alles singt, / und lasse, was dem Höchsten klingt, / aus meinem Herzen rinnen. 2 Lassen wir uns doch von Paul Gerhardt an der Hand nehmen auf unserem Weg in diesen Sommer, nehmen sein Lied als Reiseführer – für eine Reise, die, wie sich herausstellen wird, über drei Etappen führt, drei Etappen in den Sommer, eine Reise für das Herz, für die Gedanken, für die Seele, jede und jeder kann mitkommen. Paul Gerhardt schickt sein Herz auf Reisen: Geh aus, mein Herz, und suche Freud in dieser lieben Sommerzeit. Eine Reise zur Freude also – wer wollte dieser Aufforderung nicht Folge leisten? Wenn wir das singen und unsere Herzen auf die Reise zur Freude schicken, dann werden wir eine eigenartige, gemischte Reisegesellschaft: Herzen, die schon am Start froh sind, gespannte Herzen, zweifelnde, bedrückte, traurige. Und doch wir reisen zusammen, jedenfalls ein Stück des Wegs. Jede und jeder mit den eigenen Sehnsüchten, Hoffnungen und Sorgen. Aber alle auf der Suche nach der Freude. Alle in Bewegung. Alle nach vorne gewandt. Das macht den Start in die liebe Sommerzeit verheißungsvoll. Und es zeigt sich sofort: Es ist keine Reise in weite Ferne: Unsere Herzen gehen auf Sightseeing-Tour in der nächsten Nähe. Und der Reiseführer zur Freude sagt uns, was uns erwartet: die Gaben Gottes. Um die zu finden, brauchen wir nicht verbissen auf Landkarten zu schauen, machen kein Geocaching mit technischen Geräten. Und viel Gepäck ist auch nicht nötig. Die notwendige Ausrüstung besteht aus offenen Augen und wachen Sinnen und einem aufnahmebereiten Geist. Dann begegnen wir Gärten, Bäumen, Wiesen und Blumen, Vögeln des Tags und der Nacht – und wenn wir mit den übersprungenen Strophen weitersingen würden, dann kommen da noch viel mehr Vögel und Tiere, kommen Bäche und Bienen, Weinstöcke und Getreide. Die Reise zur Freude beginnt vor unserer eigenen Haustür, ein Weg durch Gärten und Felder, durch Wälder und Wiesen, ein Spaziergang in eigentlich vertrauter Umgebung. Das Herz Paul Gerhardts begegnet nicht unbekannten Sehenswürdigkeiten, sondern Bildern seines Alltags. Und es sieht doch neu, sieht diese alltäglichen Bilder als Gaben Gottes und als Anlass zur Freude. Das ist nicht selbstverständlich. Für dieses Sehen der Gaben Gottes braucht das Herz einen Anstoß, eine Aufforderung: Los, Herz, geh aus und such und sieh und höre und erfahre die Gaben Gottes! Folgen wir doch diesem Anstoß: Gehen wir einfach auch mal so in unseren Sommer: mit einem Herzen, das sieht, was da ist an guten Gaben und die Freude findet und dankbar dafür wird. Vielleicht bleibt das Herz aber noch auf der Schwelle stehen und sagt: Ist diese Reise vielleicht nur eine Flucht aus der rauen Wirklichkeit? Mein Herz kann doch nicht doch 3 nur das Schöne wahrnehmen. Es ist voll von ganz anderen Eindrücken: voll von Verletzungen und Verlusten, von Leid, Angst, Gewalt und Dummheit, von enttäuschter Hoffnung. Soll ich das alles verdrängen? Paul Gerhardt hätte allen Grund gehabt, sein Herz in solcher Skepsis zu bestärken: der 30jährige Krieg, Seuchen ohne Zahl, Tod in der Familie, das war sein Leben. Er schickt sein Herz auf die Reise, nicht weil alles gut ist, ganz im Gegenteil. Sondern weil es nötig ist, all dem Unerträglichen etwas entgegenzusetzen. Weil er die Erfahrung macht, dass auch das Unerträgliche des eigenen Lebens in ein anderes Licht gerät, wo das Herz den Gaben Gottes begegnet. Auf dieser Reise gerät das Herz in Bewegung. Es sucht und findet Freude. Und entdeckt sich selbst als Teil der guten Gaben Gottes: „Ich selber“ in der 8. Strophe, ich selber gehöre mitten unter die guten Gaben Gottes, bin Geschöpf unter Geschöpfen, sehe mich in neuem Licht, schöner, begabter, beweglicher als ich dachte. Es lohnt sich, mit dem Herzen auf diese Reise zu gehen. Auf die Reise macht sich das Herz zur Suche nach der Freude. Es findet sie an den Gaben Gottes, an den Schöpfungsgaben, für die kein weiter Weg notwendig ist. Nur die Kunst des Sehens und Hörens und Wahrnehmens ist es, die auf diesem Weg geübt wird – und die dann in den Gesang der Freude mündet, ein Singen mit allen Fasern von Leib und Seele. – Ist die Reise damit schon am Ziel? Nicht doch, nur am Ende der ersten Etappe – wir sind schließlich erst in der Hälfte des Liedes angekommen. Gehen wir auch die zweite Etappe mit: Auf ihr gelangen wir über das hinaus, was vor Augen ist. Kam es auf der ersten Etappe darauf an, die äußeren Sinne zu schärfen für die Gaben des alltäglichen Daseins, braucht das Herz auf der zweiten Etappe so etwas wie innere Sinne. Die Bilder der Schöpfung wecken die Sehnsucht danach, Grenzen zu überschreiten. Der Sommer geht auch wieder zu Ende, die Blumen verwelken, Tiere und Menschen sterben, die Freude des Sommers hält nicht an. Es muss doch noch mehr geben als all das. Dieser Sehnsucht folgt das Herz Paul Gerhardts – auf einer Etappe mit geschlossenen Augen in eine Welt innerer Bilder. Aus den äußeren Bildern vom Sommer werden Bilder eines Sommers ohne Grenzen, ohne Sorgen, Bilder eines Lichts ohne Schatten, Bilder der puren Gegenwart Gottes, Bilder einer Freude ohne Grenzen, ewig und vollkommen.

Wir singen die Strophen 9–11:

9. Ach, denk ich, bist du hier so schön / und lässt du’s uns so lieblich gehen / auf dieser armen Erden: / Was will doch wohl nach dieser Welt / dort in dem reichen Himmelszelt / und güldnen Schlosse werden!

10. Welch hohe Lust, welch heller Schein / wird wohl in Christi Garten sein! / Wie muss es da wohl klingen, / da so viel tausend Seraphim / mit unverdrossnem Mund und Stimm / ihr Halleluja singen.

11. O wär ich da! O stünd ich schon, / ach, süßer Gott, vor deinem Thron / und trüge meine Palmen: / so wollt ich nach der Engel Weis / erhöhen deines Namens Preis / mit tausend schönen Psalmen.

Die Freude am irdischen Garten verwandelt sich vor dem inneren Auge des reisenden Herzens öffnet sich in das Bild eines himmlischen Gartens, eines goldenen Schlosses. Und in seinem inneren Ohr vereint sich der Gesang der eigenen Stimme mit dem Gesang der Engel. Da wünscht sich das Herz schließlich sogar weg aus dem gerade noch so froh erlebten Sommer in einen ganz anderen, alles übertreffenden Sommer. Die Reise führt zu einer Freude, die alles Vorläufige und Begrenzte hinter sich lässt. In seiner Vorstellung ist das Herz bereits im Himmel, erlebt die Ewigkeit, ist am Ziel. Das ist schön. Und es tut gut, in dieser Vorstellung eine Rast einzulegen, leicht zu werden, aufzuatmen. In solchen Bildern Kraft tanken: entstanden in der Vorstellungskraft, getragen von der Gewissheit: Wenn es hier schon so viele Gaben Gottes zu entdecken gibt, dann gibt es Grund zur Hoffnung auf mehr, Hoffnung auf vollkommenes, ewiges Leben. Dieses Leben lässt sich auf dieser Reise vorstellen, ersehnen, sogar so stark, dass es für einen Moment der Erfüllung schon gegenwärtig scheint. Das ist schön, und es tut gut. Aber es ist noch nicht das Ziel der Reise. Denn es wird wieder Zeit, die äußeren Sinne einzuschalten und nicht auszusteigen aus der realen Welt. Es ist Zeit für die dritte Etappe. Ziemlich abrupt kehrt auch Paul Gerhardts Herz von seiner Himmelsreise zurück in sein begrenztes Leben.

Wir singen die Strophen 12–15:

12. Doch gleichwohl will ich, weil ich noch / hier trage dieses Leibes Joch, / auch gar nicht stille schweigen; / mein Herze soll sich fort und fort / an diesem und an allem Ort / zu deinem Lobe neigen.

13. Hilf mir und segne meinen Geist / mit Segen, der vom Himmel fleußt, / dass ich dir stetig blühe; gib, dass der Sommer deiner Gnad / in meiner Seele früh und spat / viel Glaubensfrüchte ziehe.

14. Mach in mir deinem Geiste Raum, / dass ich dir wird ein guter Baum, / und lass mich Wurzel treiben. / Verleihe, dass zu deinem Ruhm / ich deines Gartens schöne Blum / und Pflanze möge bleiben.

15. Erwähle mich zum Paradeis / und lass mich bis zur letzten Reis / an Leib und Seele grünen, / so will ich dir und deiner Ehr / allein und sonsten keinem mehr / hier und dort ewig dienen.

Das Herz ist zurück in der bekannten Welt, „des Leibes Joch“ ist nicht vergessen. Da sind alle Beschwernisse, alle Sorgen, alle Trauer und alle Verzweiflung, die Mühen eines jeden Tages und die Angst vor dem morgen. Das Herz hat auf seiner Reise in zwei Etappen Freude gefunden, die Freude an Gottes Gaben auf Erden und im Himmel. Und nun ist es zurück. Was es gefunden hat, kann ihm niemand nehmen. Die gefundene Freude bleibt – als Geschenk und als Auftrag. Mit ihr begibt sich das Herz auf die dritte Etappe der Reise – mitten in die Herausforderungen und Ausweglosigkeiten des eigenen Lebens. Folgen wir Paul Gerhardt, dann reisen wir auf dieser Etappe auf zwei Arten: indem wir beten und indem wir arbeiten (im Lied heißt es „dienen“). Beten bedeutet hier: sich selbst und das eigene Leben neu verstehen: Hilf mir … / Mach in mir … / erwähle mich …. Wenn ich mein Herz so beten lasse, dann verstehe ich, dass mein eigenes Leben Gottes gute Gabe ist. Dass ich im „Sommer seiner Gnade“ lebe, getragen von seiner Zuwendung und Liebe und von seinem Zuspruch. Gepflanzt und gepflegt und umsorgt in einem Garten. Ermutigt zu Vertrauen und Liebe, zum Glauben und zu Früchten dieses Glaubens. Wenn ich mein Herz so beten lasse, dann klärt sich, dass mein Leben ein Zeichen für Gottes Leben sein kann, sein soll – ich eine Blume in diesem Garten, an dem andere Herzen ihre Freude haben können. Das ist ein Alltagsgebet, tauglich für jeden Tag – und völlig unabhängig von Jahreszeit und Wetter. Das letzte Wort des Liedes und des Gebets ist das Wort dienen: „hier und dort ewig dienen“: So geht die Reise weiter – als Beten und als Arbeiten. Die Erfahrungen der Reise durch den irdischen und durch den himmlischen Garten lassen voller Freude, Dank und Zuversicht singen – und geben Kraft und Mut zu denken, zu reden und zu handeln, Verantwortung für Welt und Menschen und Schöpfung wahrzunehmen. Paul Gerhardts Herzensreise nimmt uns auf einen Weg voller schöner Bilder der guten Gaben Gottes. Und am Ende führt sie uns wieder mitten ins Leben; sie ist eben keine Flucht aus der rauen Wirklichkeit. Wir sind die Schatten nicht los, die unseren Sommer verdunkeln. Sie bleiben uns als Last und als Aufgabe. Wer auf dieser Reise an Menschen, Tieren und Pflanzen die Freude über Gottes Gaben erfahren hat: Wie könnte der stumpf zusehen, wie Menschen verletzt und zurückgestoßen werden, wie Bäume sterben und Arten verschwinden? Wer sich auf den beiden ersten Etappen dieser Reise hat Freude und Kraft schöpfen können, sich ermutigen lassen zum Staunen und zu kindlicher Freude: Wie könnte der jetzt nicht alles, was in den eigenen Kräften steht, dazu tun, diese Welt Gottes zu erhalten und zu bewahren? Der wird doch dazu beitragen, dass Menschen so leben, dass sie alle Raum haben, Achtung erfahren, miteinander die Freude an Gottes Gaben erfahren und diese Gaben teilen, in einer Pandemie erst recht. Wer mit seinem Herzen auf die Reise zur Freude gegangen ist, der wird doch nicht zulassen, dass das Klima vor die Hunde geht – und das schöne Bild vom sommerlichen Garten für Generationen nach uns zum Horrorbild wird. Liebe Gemeinde, wir bleiben auf der dritten Etappe unterwegs. Und wir nehmen die beiden anderen Etappen dabei am besten einfach mit. Wir suchen weiter nach der Freude in dieser uns geschenkten und anvertrauten Welt – und über sie hinaus. Und wir suchen auch die Wege, diese Freude zu erhalten, sie zu vertiefen und zu verbreiten. Was wird das für ein Sommer? Das wissen wir nicht. Aber mit Paul Gerhardts als Reiseführer können wir in den Sommer gehen – und können mit ihm durch diesen Sommer gehen, mit geöffneten Augen, mit Bildern vor unserem inneren Auge, singend und betend und arbeitend, bereit zur Verantwortung für unser Leben und unsere Welt, mit dem Herzen und den Händen, der Stimme zum Reden und zum Wählen, mit allen Kräften und Begabungen, die wir haben. Das ist kein Sommermärchen, auch kein Sommernachtstraum. Nennen wir es eine Sommerreise. Ich wünsche uns, dass auf dieser Reise der Sommer gut wird. Und der Herbst und der Winter auch, denn diese Reise lohnt sich zu allen Jahreszeiten. Man kann sie immer wieder antreten. Und sie wird nie langweilig. Amen. Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, wird eure Herzen und Sinne in Christus Jesus bewahren. Amen. Wir singen noch einmal die erste Strophe.

1. Geh aus, mein Herz, und suche Freud / in dieser lieben Sommerzeit an deines Gottes Gaben; / schau an der schönen Gärten Zier / und siehe, wie sie mir und dir / sich ausgeschmücket haben.