Liebe Gemeinde!
Das wird ein schwieriges Jahr, dieses 2020! Mit Blick auf politische und ökologische Fragen sowieso, aber das sind wir ja schon gewohnt. Seit drei Jahren zerren uns die Briten mit ihrem elenden Brexit hin- und her, ebenso lange hoffen wir, dass Donald Trump nur eine Amtszeit Präsident der USA sein möge und dass eine gewisse braun gefärbte Partei hier in Deutschland dahin verschwinden möge, wo sie hingehört, nämlich im Abgrund der Geschichte. Wir hoffen und verlangen mit Greta Thunberg und Fridays for Future, dass die Regierenden sich der Welt endlich zu einer radikalen Umkehr in Sachen Klima und Umwelt durchringen – und erleben dann eine Klimakonferenz in Madrid, bei der nichts als heiße Luft herauskommt.
Alles schwierig und immer wieder zum Verzweifeln, aber, wie gesagt, daran haben wir uns ja fast schon gewöhnt. Aber nun müssen wir auch noch ein ganzes Jahr mit dieser Jahreslosung leben: „Ich glaube; hilf meinem Unglauben!“ Ein Jahr lang! Mit der Gleichzeitigkeit von Glauben und Zweifeln! Ein Jahr lang! DAS wird wirklich schwierig!
Ich erlebe diese Gemeinde immer wieder als eine, die durchaus deutlich und fröhlich den Glauben bekundet, der sie als Gemeinde und auch die einzelnen Menschen in der Gemeinde hält und trägt, im gesprochenen Wort, in der Kirchenmusik (großes Ausrufezeichen!) und im diakonischen Handeln an den Menschen.
Und nun das. Nun müssen auch wir in dieser Gemeinde uns sagen lassen, dass das offenbar zusammengehört: Glauben und Zweifeln. Das Glauben, das vielen von Ihnen/uns zur zweiten Natur geworden ist, wird Ihnen/uns, denke ich, weniger Probleme bereiten als das Zweifeln. Das kann ich gut verstehen, denn: Dürfen wir das denn? Dürfen wir uns Zweifel erlauben in einer Welt, die des Glaubens so sehr bedarf? Unseres Glaubens?
Also, ich persönlich meine ja, dass es in der Zeit, in der wir leben, nicht unbedingt zu viele Menschen gibt, die zweifeln, sondern im Gegenteil viel zu wenige. Haben Sie schon einmal irgendeine Äußerung des (Selbst-)Zweifels von Donald Trump oder Boris Johnson gehört? Von fundamentalistischen/evangelikalen Christinnen und Christen? Von Hamas und IS- oder Al-Kaida-Kämpfern? Von radikalen Siedlerinnen und Siedlern im Westjordanland? Oder auch von den Atheistinnen und Atheisten in Ihrer Umgebung? „Nein, ich hatte nie Zweifel an meinem Atheismus“, antwortete Woody Allen in einem Zeitungsinterview auf eine entsprechende Frage. Nicht wörtlich, aber sinngemäß genauso beantworten Äußerungen all der anderen Genannten mögliche Fragen nach dem Zweifel.
Tja. Und dann machen alle hingebungsvoll damit weiter, sich gegenseitig die Köpfe einzuschlagen und andere zu massakrieren und Synagogen und Moscheen und Kirchen anzugreifen und niederzubrennen. Und sie machen natürlich damit weiter, die eigene Unfähigkeit zum Gespräch als Stärke zu verkaufen. Wie aber sagte Erich Fried so schön und wahr: „Zweifle nicht an dem, der dir sagt, er hat Angst, aber hab Angst vor dem, der dir sagt, er kenne keinen Zweifel.“
Sie merken: Eine gewisse Menge an Zweifel muss nicht unbedingt schaden. Im Gegenteil: Sie kann die Welt menschlicher machen. Unmenschlich wird die Welt durch die, die keinen Zweifel zulassen, weil sie sonst ihre eigene Unsicherheit und ihre menschlichen Defizite eingestehen müssten. Und das darf nicht sein. Denn wenn sie Zweifel erlauben, fällt IHRE Welt zusammen.
Wahrer Glaube lässt also den Zweifel zu. Das macht uns auch die Geschichte deutlich, zu der die Jahreslosung 2020 gehört. Auf die Bitte des Vaters („…wenn du etwas kannst, so erbarme dich unser und hilf uns“) gibt Jesus zunächst eine überaus korrekte und, ja: fundamentalistische Antwort: „Alle Dinge sind dem möglich, der glaubt.“ Ja prachtvoll, denkt man sich da, wie hilfreich! Super seelsorgliche Leistung! Aber schon schlägt die Antwort des Vaters das überkorrekte Glaubensgebilde kaputt: „Ich glaube, hilf meinem Unglauben!“ Und DA wird Jesus tätig und heilt den Jungen von seiner Krankheit.
Das heißt: Der Vater mit seiner Zerrissenheit und seiner Verzweiflung wird zum Glaubenszeugen. Er zweifelt – wie könnte er auch nicht zweifeln angesichts der furchtbaren Krankheit seines Sohnes. Aber er glaubt auch und wendet sich mit seinem Glauben an Jesus. Und der hilft.
Ja, auch wenn es uns noch so schwerfällt, das zu ertragen: Glaube und Zweifel gehören zusammen. Der Glaube ist nicht etwas, das man einfach so hat und das sich immer gleich bleibt, egal was geschieht und was uns begegnet. Der Glaube ist ein Geschenk, und: Er braucht Hilfe. Denn „Hilf meinem Unglauben“ heißt ja zugleich immer auch: Hilf meinem Glauben, der manchmal so angefochten, so wenig selbstverständlich und so ungleichmäßig stark oder schwach ist.
Was es nicht heißt, ist: Vertreibe den Zweifel. Es heißt wohl eher: Hilf mir, die Spannung zu ertragen zwischen Glauben und Unglauben, zwischen Sicherheit und Zweifel. Denn auf den Zweifel zu verzichten wäre fatal, weil ohne den Zweifel aus dem Glauben entweder ein überaus korrektes, aber staubtrockenes Etwas würde, an dem wir alle herumwürgen würden wie an diesen oft auch so staubtrockenen Rührkuchen, die eine Freundin immer „Würgeengel“ zu nennen pflegt. Oder aus ihm würde etwas im Wortsinne Fatales, nämlich etwas Tödliches: Der Fanatismus, mit dem die Welt zur Zeit wahrhaftig genug geschlagen ist und dem so viele Menschen zum Opfer fallen und dem im Übrigen auch eine kostbare politische Errungenschaft zum Opfer fiele: die Demokratie. Denn die lebt davon, dass Meinungen und sogar feste Überzeugungen in Frage gestellt werden, auf den Prüfstand kommen und sich im (Streit-)Gespräch entwickeln. Sie lebt von genau der Gesprächs- und Streitkultur, die dem Fanatismus ein Gräuel ist und die uns heutzutage, bei all den Fundamentalismen und Fanatismen, denen wir ausgesetzt sind, immer mehr abhanden zu kommen scheint – ich habe manchmal das Gefühl, dass niemand mehr wirklich mit den anderen redet, sondern dass sich alle nur noch gegenseitig anschreien…
Ich habe am Anfang gesagt, dass wir mit dieser Jahreslosung ein schwieriges Jahr vor uns haben. Daran halte ich auch fest, denn dass sie uns immer wieder nicht nur bloße Zuversicht gibt, sondern uns die Spannung zwischen Glauben und Zweifeln stößt, wird uns nicht nur einmal unbequem sein. Aber ich meine, dass wir uns an ihr in all ihrer Unbequemlichkeit auch freuen können und freuen sollten. Denn sie öffnet auch die Tür zur Menschlichkeit, zum Respekt vor den Überzeugungen anderer, zum Gespräch und zur Suche nach Einigkeit – auch in der Uneinigkeit. Sie führt über die innere, die „private“ Zerrissenheit zwischen Glauben und Unglauben hinaus und öffnet den Horizont der Freiheit. Zugleich aber nimmt sie diese innere, „private“ Zerrissenheit auch ernst. Sie zeigt uns, dass die uns immer begleiten wird, weil sie ein innerer Bestandteil des Glaubens ist. Sie sagt uns aber auch, dass uns darin, in dieser Zerrissenheit, geholfen wird, wie wir es brauchen. Und so ist, meine ich, dieser schwierige Satz denn letztendlich doch eine schöne Losung für das ganze Jahr! Amen.
Dr. Sabine Zoske