Predigt zu Röm. 13, 8 – 14, 1.12.2019

Predigt zu Röm. 13, 8 – 14, 1.12.2019

Liebe Gemeinde!

Das hätte sich Paulus auch nicht träumen lassen, dass wir hier heute sitzen und den 1. Advent feiern. Dass es im Jahre 2019 überhaupt noch christliche Gemeinden gibt, die auf die Wiederkunft Jesu Christi warten. Dass es jüdische Gemeinden gibt, die darauf warten, dass der Messias endlich erscheint. Dass es überhaupt noch nötig ist zu warten!
Nein, das hätte er sich nicht träumen lassen. Denn Paulus, wie immer, hatte es eilig. Er fand, es sei höchste Zeit, dass sich etwas tut, dass Jesus Christus wiederkommt, dass der Messias (das fiel für ihn ja noch fraglos in eins) erscheint. Und weil Paulus es eilig damit hatte, fand er wohl, dass der Erlöser es auch eilig haben sollte, und er rechnete damit, dass er es eilig haben würde. Deshalb hat er wiederum so eilig, manche würden sogar sagen: hektisch missioniert – so schnell, dass so manche der von ihm gegründeten Gemeinden nicht lange überlebt haben. Zu dünn war das hastig gelegte Fundament. Geduld war offenbar Paulus‘ Stärke nicht. Deshalb seine Erwartung und sein Anspruch: Ganz bald geht es los. „ …die Stunde (ist) da, aufzustehen vom Schlaf“ Und: „Die Nacht ist vorgerückt; der Tag ist nahe herbeigekommen.“
Wobei: Es scheint in den frühen christlichen Gemeinden Menschen gegeben zu haben, die sogar noch ungeduldiger waren als selbst Paulus. Denen erschien sogar die kurze Wartezeit, mit der Paulus rechnete, noch zu lang. Denen musste erklärt werden, warum es länger als erwünscht dauert mit der Ankunft des Befreiers; das macht Paulus an anderer Stelle (1. Thess. 5); wenn auch eher flüchtig, weil er es ja selbst nicht wirklich wissen konnte. Und – sie wussten mit der Wartezeit offenbar nichts Rechtes anzufangen – ihnen musste gesagt werden, womit sie zu füllen war.
Hier nun kommen wir zu etwas, das Paulus sich garantiert auch nicht träumen lassen hätte: Das es nämlich im Jahre 2019 Menschen geben würde, die sich die Wartezeit, besonders die Zeit, die auf sehr herausgehobene Weise dem Warten gewidmet ist, damit verkürzen würden, dass sie bei Kerzenschein und Plätzchen essend am Wohnzimmertisch sitzen oder Glühwein trinkend über Weihnachtsmärkte bummeln würden.
So schön das ist – Sie wissen ja, dass ich eine Freundin der Adventsfreuden bin –, Paulus hat durchaus andere Ideen, wenn es um das Ausfüllen der Wartezeit geht.
Wenn wir uns diese Ideen näher angucken, dann landen wir keineswegs bei Plätzchen und Kerzenschein und Glühwein. Sondern wir landen bei den Geboten der Tora und bei deren Erfüllung, bei „Du sollst nicht ehebrechen, du sollst nicht töten, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht begehren“ und all den anderen Geboten, die Gott seinem Volk am Sinai geschenkt hat. Und wir landen bei dem, was Jesus von Nazareth als das höchste Gebot bezeichnet hat: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“
Nächstenliebe. Bei Paulus ist sie die Erfüllung der Tora, ihre Zusammenfassung in einem Satz, bei Jesus das höchste Gebot. Die Reaktion des Schriftgelehrten im Markusevangelium (Kap. 12) zeigt: Das ist nichts wirklich christlich Neues. Vielmehr findet sich das Gebot der Nächstenliebe ja schon im 3. Buch Mose (Kap. 19, gepaart übrigens mit der Liebe zu den Fremden…). Und: Das Gebot der Nächstenliebe hebt die anderen Gebote nicht auf. Es fasst sie vielmehr zusammen und setzt selbstverständlich voraus, dass sie ernst genommen und erfüllt werden, auch von denen, die sich als Menschen in der Nachfolge Jesu verstehen.
Das klingt in christlichen, vor allem in protestantischen, Ohren fremd. Wir haben ja eher gelernt, die Erfüllung von Geboten und das Tun guter Werke für zweitrangig zu halten gegenüber der Gerechtigkeit aus Glauben. Ich glaube, wir müssen da noch einmal neu nachdenken. Ich meine damit nicht, dass wir Christinnen und Christen jetzt plötzlich und unerwartet jedes einzelne der jüdischen Speisegesetze einhalten sollten – obwohl ein Verzicht auf Blutwurst oder Rahmgulasch, so lecker die sein können, ja schon einmal ein Anfang wäre. Das, wie gesagt, meine ich nicht. Genauso gut wie oder gar besser als unsere jüdischen Geschwister könnten wir das sowieso nicht hinkriegen, und nicht umsonst reicht dem Talmud bereits die Einhaltung von sieben besonders wesentlichen Geboten, damit ein Mensch immerhin und wenigstens als gerecht bezeichnet werden kann…
Es gibt aber eine christliche/protestantische Gebotsverachtung, eine scheinfromme Anmaßung des Anspruchs auf Vergebung auch, bei der mich die kalte Wut überkommt. Da Paulus interessanterweise seine abschreckenden Beispiele für die Machenschaften der Finsternis aus dem Bereich des Gebots „Du sollst nicht begehren“/“Giere nicht nach dem, was zu deinem Nächsten gehört“ (BigS) nimmt, begebe ich mich jetzt auch einmal in dieses Gebiet. Die Stichworte „Lügde“ und „Bergisch Gladbach“ bringen mich dazu.
In meiner Zeit im Landeskirchenamt gehörte ich zu der Abteilung, die unter anderem auch für das Verfahren in Fällen von sexuellem Missbrauch zuständig war. Mehrmals habe ich mitbekommen, dass es da Täter gab, die aus besonders „frommen“ Kreisen kamen. Die Angehörigen des entsprechenden Dezernats kamen immer wieder völlig fertig und bebend vor Zorn aus den Anhörungen von solchen „frommen“ Tätern, die ihnen unverfroren ins Gesicht sagten „Gott hat mir vergeben.“ Das meine ich mit Anmaßung, das meine ich mit scheinfromm, des meine ich mit Gebotsverachtung. Das ist widerlich. Das versetzt mich in kalte Wut. Ich kriege Sehnsucht nach der Theologie des Großen Versöhnungstages: Gott vergibt uns auf unser Bekenntnis und unsere Bitte hin die Sünden gegen ihn selbst. Aber er verbietet es sich, die Sünden zu vergeben, die wir gegen unsere Mitmenschen begangen haben, bevor wir nicht von ihnen Vergebung erbeten und bekommen haben. Das setzt Einsicht voraus – und die haben die „frommen“ Täter nicht.
Das alles bestärkt mich in dem Gedanken, dass wir Christinnen und Christen,besonders wir Protestantinnen und Protestanten, unseren Umgang mit den Geboten der Tora in der Tat noch einmal überdenken sollten.
Zumindest können wir nicht so tun, als gingen sie uns nichts an. Zumindest können wir nicht so tun, als gehörten zwar die Zehn Gebote zu „unseren“ Urtexten, als hätten aber all die anderen Regelungen, die Gott am Sinai schenkt, also fast alles in den Büchern 2. – 5. Mose keine Bedeutung und könnten bei der Bibellektüre und im täglichen Leben allesamt geschlabbert werden. Immerhin – ich komme noch einmal auf den Zusammenhang von eben – steht da auch drin (5. Mose 22), dass eine Vergewaltigung so ist, als erhöbe sich jemand gegen seinen Nächsten und schlüge ihn tot…
Keine Gebotsverachtung also, kein Anspruch auf Gnade und Vergebung ohne Hochachtung für Gottes Gebot und ohne das Tun des Gerechten. Keine Billige Gnade, wie Bonhoeffer das genannt hat.
Aber – das muss ich nun doch gut protestantisch hinzufügen – auch keine Reduktion unseres Glaubens auf bloße Ethik ohne das notwendige Vertrauen darauf, dass Gott uns seine Liebe schenkt, ohne dass wir (vorher) etwas dafür leisten müssen. Keine Werkgerechtigkeit, wie Luther das nennt.
Die droht aber übrigens auch nicht, wenn wir uns, wie Paulus das empfiehlt, den Geboten und der Nächstenliebe zuwenden, während wir auf das Kommen/Wiederkommen des Erlösers warten. Zählen Sie doch einmal nach, wie oft z.B. im dritten Buch Mose hinter einem Gebot steht „Ich bin die Ewige“ oder „Ich bin der Herr, dein Gott!“
Das kann, so sagt es der große Rabbiner Leo Baeck, doch nur bedeuten: Alles ethische Handeln erzählt von Gott. Und alle Versenkung in Gott, aller Glaube also, ist zugleich Versenkung in den Willen Gottes. Für Jüdinnen und Juden und auch für uns Christinnen und Christen ist da, wo wir Gottes Gebot erfüllen, also Nächstenliebe üben und das Gerechte tun, Gott anwesend. Und all unser Tun und Handeln ist nichts ohne das Vertrauen darauf, dass Gott das, was daran bruchstückhaft bleibt und bleiben muss, in Liebe vollendet und uns annimmt, ohne dass wir zur Perfektion gelangen. Es ist auf die Zukunft gerichtet. Es ist gerichtet auf das Kommen des Erlösers. Und – damit bin ich wieder am Anfang der Predigt – es füllt die Wartezeit mehr als sinnvoll aus.
Na, dann krempeln wir doch die Ärmel hoch. Nehmen wir die Gebote Gottes ernst. Üben wir Nächstenliebe. Tun wir das Gerechte. Engagieren wir uns politisch – ob in einer Partei (nur in einer nicht!!!) oder bei Fridays for Future oder bei Greenpeace oder attac oder, oder, oder. Sagen wir niemals „Das nützt ja doch alles nichts“ – das ist ein Satz, der die Nächsten und die Welt im Stich lässt, und das verbietet sich für die, die auf das Kommen des Erlösers warten. „Die Nacht ist vorgerückt, der Tag ist nahe herbeigekommen!“ Und das eine oder andere Plätzchen darf‘s dann bestimmt auch sein. Amen.

Dr. Sabine Zoske