Liebe Gemeinde,
hier vorne unter der Kanzel steht oft ein Glas Wasser bereit, falls es bei einer Predigt mal gebraucht wird. Es ist nicht schwer, ich könnte es mühelos mit gestrecktem Arm hier vor mich halten. Es käme dann alles darauf an, wie lange ich es halten muss.
Eine Minute – kein Problem. Bei einer Stunde würde ich mindestens einen leichten Schmerz im Arm spüren. Ein ganzer Tag lang wäre kaum zu schaffen, und mein Arm würde erlahmt herabsinken. Das Gewicht des Glases und auch meines Arms ändert sich nicht, aber umso länger ich es halte, desto schwerer wird es mich belasten.
Mit unseren alltäglichen Sorgen ist es wie mit diesem Glas mit Wasser. Wenn sie kurz mal aufscheinen, hinterlassen kaum Spuren. Begleiten sie uns etwas länger, dann wirken sie wie eine Last. Füllen sie den Tag, dann lähmen sie uns, bis wir deprimiert und innerlich unbeweglich werden.
Im Evangelium des heutigen Sonntags will uns Jesus daraus befreien, uns von unseren Sorgen ganz gefangen nehmen zu lassen:
Mt 6, 25-34 Jesus sagt in der Bergpredigt:
25 Darum sage ich euch: Sorgt nicht um euer Leben, was ihr essen und trinken werdet; auch nicht um euren Leib, was ihr anziehen werdet.
Ist nicht das Leben mehr als die Nahrung und der Leib mehr als die Kleidung?
26 Seht die Vögel unter dem Himmel an: sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater ernährt sie doch. Seid ihr denn nicht viel mehr als sie?
27 Wer ist unter euch, der seines Lebens Länge eine Spanne zusetzen könnte, wie sehr er sich auch darum sorgt?
28 Und warum sorgt ihr euch um die Kleidung? Schaut die Lilien auf dem Feld an, wie sie wachsen: sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht. 6,29 Ich sage euch, dass auch Salomo in aller seiner Herrlichkeit nicht gekleidet gewesen ist wie eine von ihnen.
30 Wenn nun Gott das Gras auf dem Feld so kleidet, das doch heute steht und morgen in den Ofen geworfen wird: sollte er das nicht viel mehr für euch tun, ihr Kleingläubigen?
31 Darum sollt ihr nicht sorgen und sagen: Was werden wir essen? Was werden wir trinken? Womit werden wir uns kleiden? 6,32 Nach dem allen trachten die Heiden. Denn euer himmlischer Vater weiß, dass ihr all dessen bedürft.
33 Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen.
34 Darum sorgt nicht für morgen, denn der morgige Tag wird für das Seine sorgen. Es ist genug, dass jeder Tag seine eigene Plage hat.
Liebe Gemeinde, sich von Sorgen befreien? Wie soll das denn gehen? Wie sollen wir sie denn loswerden, die alltäglichen Sorgen? Wir sorgen uns um so vieles, und tragen so viel mit uns herum, dass es doch kein einfaches Rezept gegen Besorgtheit als starkes Grundgefühl unseres Lebens geben kann. Jesus fordert uns aber nicht nur auf. Er sagt auch: Entwickelt einen anderen inneren Sinn, einen anderen, geistlichen Blick auf das, was euch umtreibt! Und für diesen anderen Blick gibt uns die Bibel Anschauungsmaterial, vom Buch Genesis am Anfang, bis zum letzten Buch der Offenbarung. Fünf praktische Tips aus biblischem Hintergrund möchte ich Ihnen heute geben.
- Das viele Gute in unserem Leben gut sein lassen
Als erstes lenkt Jesus unseren Blick auf das Wunderbare, das schon da ist mitten in unserem Leben und auf das die Sorgen unseren Blick eher verstellen. Jesus sagt: sieh auf zwitschernde Vögel unter dem Himmel und auf blühende Blumen auf dem Feld. Diese beiden Beispiele stehen für haufenweise anderes, das wohltuend zu unserem Leben gehört. Diesen Blick wiederzugewinnen, und das Gute dann regelrecht innerlich zu feiern und es ausdrücklich gut sein zu lassen – egal was sonst noch da und weniger schön ist – das ist der erste Schritt für eine bessere Perspektive. Von Gott selbst heißt es in der Schöpfungsgeschichte (1. Mose 1, 31 – 2,3):
Und Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut.
Der Reichtum der Natur, all die lieben Menschen in unserem Leben, jeder Atemzug und jeder Schluck Wasser gegen den Durst, jede schöne Stille und jede Musik, die uns berührt, all die abertausend kleinen und großen Wunder in unserem Leben: all das sind große Hinweisschilder darauf, wie schön es ist, dass Gott uns unser menschliches Leben geschenkt hat. „Seele, vergiss es ja nicht“: erinnere dich und sieh sehr bewusst hin. Mach es dir zur Übung, über vieles staunend zu sagen: oh, das ist ja toll! Lass dabei auch weniger Schönes mal neben und hinter dir. Lass es gut sein! Das ist das erste.
- Aus der alltäglichen Distanz zu Gott zurückfinden in seine Nähe
Im 1. Mosebuch 28 wird uns erzählt: Jakob ist auf der Flucht und voller Sorgen. Er 11 … kam an eine Stätte, da blieb er über Nacht … und legte sich an der Stätte schlafen. 12 Und ihm träumte, und siehe, eine Leiter stand auf Erden, die rührte mit der Spitze an den Himmel, und siehe, die Engel Gottes stiegen daran auf und nieder. … 16 Als nun Jakob von seinem Schlaf aufwachte, sprach er: Fürwahr, der Herr ist an dieser Stätte, und ich wusste es nicht!
Diese von Menschen oft nicht gespürte überwältigende Nähe Gottes, genau da, wo wir sie nicht vermuten oder unser Alltag mit seinen Herausforderungen sie innerlich überdeckt, genau die erweist sich überrschend. Mit dieser Botschaft hat Jesus seine öffentliche Wirksamkeit begonnen (Mk. 1,15):
»Die Zeit ist gekommen, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um und glaubt diese gute Botschaft!«
Kehrt um, das heißt als erstes: Kehrt aus eurer völligen Bindung an diesseitiges Machen und Sorgen um. Die Welt, die so reduzierte Welt, ist nicht genug. Lasst Euch überraschen davon, wo überall und wie sehr Gott euch nahe ist!
- Staunen darüber, wie Böses doch noch gut werden kann
Josefsgeschichte 1. Mose 50. Josefs Brüder hatten aus Eifersucht nichts unversucht gelassen, ihn loszuwerden. Aber ihr böser Plan wurde später auf Umwegen zum Grund für etwas Gutes: Rettung vieler Menschen aus Hungersnot durch Josefs weitere Lebensgeschichte, sie selbst eingeschlossen.
19 Josef aber sprach zu ihnen (seinen Brüdern): Fürchtet euch nicht! … 20 Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen.
Wir verzweifeln oft am Bösen, vor allem wenn es so aussieht, als ob es unbesiegbar wäre und auf Dauer die Oberhand gewinnt. Aber der große König Belsazar zerbricht an dem einen Wort Gottes: „Gewogen, gewogen und zu leicht befunden.“ (Dan.5) Das „tausendjährige Reich“ kriegte mit seinen Abgründen von Unrecht keine zwanzig Jahre voll, und die Berliner Mauer, die für Jahrhunderte gebaut schien, fiel so plötzlich, als sei sie von einem Windstoß umgeblasen. Mitten in all dem Bösen, was Menschen mit Macht über andere Menschen planen und tun, fallen sie immer wieder über ihre eigenen großspurigen Füße, während es Gott zu unserem Staunen gelingt, durch Menschen und für Menschen aus Bösem Gutes werden zu lassen.
Wer das Staunen darüber nicht verliert, resigniert nicht vor zerstörerischen Mächten und bösen Menschen, sondern behält die wohlwissende Zuversicht, dass solche Mächte ganz sicher nicht das letzte Wort haben. Der auferweckte Christus ist Gottes Antwort auf die Kreuzigung. Das Dunkle kann nur dann unser Leben ganz dunkel machen, wenn wir diese Erinnerung aufgeben und resignieren. Jesus sagt uns: dazu habt ihr keinen Grund: Gott, der sogar das Gras grünen lässt, sieht euch mit liebevollem Blick an und gibt, wie wir zu Beginn jedes Gottesdienstes hören, das Werk seiner Hände nicht preis. Es lohnt sich, den Weg in dieses Vertrauen zu finden.
- Beschränkung auf das, was man selbst tun kann – und Fruchtbarkeit Gott überlassen
Ein Teil unserer Sorgen kommt immer aus unserer eigenen Geschäftigkeit: wir tun und machen, um etwas zu erreichen. Dabei wächst oft unmerklich das Gefühl, dass wir am liebsten alles noch besser im Griff hätten. Und wenn das nicht so klappt wie wir möchten, machen wir uns Sorgen, ob uns die Kontrolle entgleitet.
Ein großer Teil dieser Sorgen ist nach meiner Erfahrung verschwendete Lebensenergie, weil wir nicht mal ansatzweise alles im Griff haben können, nicht mal das, was wir in eigener Regie haben und gut planen. Leben funktioniert nicht so! Es gibt einen Bereich, für den wir selbst zuständig sind – und es ist gut, wenn wir dieser Verantwortung gerecht werden und das Beste daraus machen, so gut wir können.
Aber – und dessen Reichweite ist uns oft nicht bewusst – es gibt immer auch einen VIEL größeren Teil, für den wir NICHT zuständig sind, so sehr wir uns auch einmischen. Jesus hat das für das Reich Gottes in das Gleichnis von der selbstwachsenden Saat gefasst (Mk 4, 26-29, Neue Genfer Übersetzung):
26 »Mit dem Reich Gottes«, so erklärte Jesus weiter, »ist es wie mit einem Bauern, der die Saat auf seinem Acker ausgestreut hat. 27 Er legt sich schlafen, er steht wieder auf, ein Tag folgt dem anderen; und die Saat geht auf und wächst – wie, das weiß er selbst nicht…«
Das Gleichnis unterscheidet scharf zwischen dem, was der Bauer tun kann und wobei er sich zu Recht Mühe macht, und dem, was er nicht tun kann. Es gibt eine Fruchtbarkeit, die schlicht nicht in seiner Hand liegt. Er legt sich schlafen und steht wieder auf, lässt dem Wachstum Zeit und den Dingen ihren Lauf. Wir schaffen es oft nicht, diesen Unterschied gelten zu lassen, und dehnen unseren Aktionismus und unsere Erwartungen bis zur Kontrollsucht aus auf Bereiche, für die wir nicht zuständig sind. Wie Bauern, die nach dem Säen an den Halmen ziehen würden, sobald sie sich zeigen, und damit eher Fruchtbarkeit zerstören als sie fördern würden. Selbstbeschränkung im Handeln ist also eine wichtige Voraussetzung, um sich von falschen Sorgen zu befreien.
- Kindliches Gottvertrauen als Basis himmlischer Sorglosigkeit
Das ist immer der eigentliche Kern der Botschaft Jesu: vertraut Gott, wie ein Kind einer guten Mutter oder einem guten Vater vertraut, denen es sich blind von einer Erhöhung in die Arme wirft, wozhl wissend, dass es aufgefangen wird. Jesus sagt: niemand von euch würde doch einem Kind eine Schlange statt einem Fisch zum Essen in die Hand geben. Wie viel mehr wird euer himmlischer Vater dies Grundvertrauen verdienen (Mt 7,10):
Wenn nun ihr, die ihr böse seid, euren Kindern gute Gaben zu geben wisst, wie viel mehr wird euer Vater, der in den Himmeln ist, denen Gutes geben, die ihn bitten!“
Wo ich mit diesem Grundvertrauen auch durch schwierige Erfahrungen gehe, sagt Paulus, da erlebe ich Erlösung aus der Sorge auf eine neue, ganz überraschende Weise: nicht erst dann, wenn meine Situation sich bessert, sondern mitten in meinen Schwierigkeiten, die mir Sorgen machen! So kann er (2 Kor 6, NGÜ) sagen:
9 Wir werden nicht beachtet und sind doch anerkannt. Ständig sind wir vom Tod bedroht, und doch sind wir – wie ihr seht – immer noch am Leben. Wir werden schwer geplagt und kommen doch nicht um. 10 Wir erleben Dinge, die uns traurig machen, und sind doch immer voll Freude. Wir sind arm und machen doch viele reich. Wir besitzen nichts, und doch gehört uns alles.
Einer der Gründe, weshalb wir als Kinder Gottes diese Kraft mitten in Schwachheit, diese Zuversicht mitten in Anfechtungen erleben können, hat mit der großen Verheißung zu tun, auf die am Ende alles hinaus läuft. Die Geschichte der Kinder Gottes wird am Ende in Gottes Sinn und in Jesu Namen und in der bleibenden Gegenwart des Heiligen Geistes gut werden. Vom Leben im Neuen Jerusalem heißt es deshalb im Buch der Offenbarung 21:
4 und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen.
Der letzte Grund, unsere Sorgen abzulegen, ist das geistliche Licht vom Ende des Tunnels, das von daher schon jetzt in unser Leben fällt. Am Ende sorgt Gott dafür, dass alles auf ganz neue – und uns jetzt noch nicht sichtbare und verständliche Weise – gut werden kann. Darauf zu bauen, fällt uns vielleicht nicht leicht. Aber wir haben die Möglichkeit, das gegen allen Kleinglauben bewusst zu tun: „Ich glaube, hilf meinem Unglauben!“ (Mk 9,24).
Wir wollen all die genannten Gründe, Sorgen abzuschütteln, neu in unser Leben lassen und sie üben. Wir wollen etwas von der inneren Gelassenheit und Heiterkeit der Bergpredigt in unser Leben nehmen, weil es ein ungemein wichtiger Teil unsere Glaubens ist. Vielleicht lernen wir dann das Schmunzeln in Stress-Situationen wieder, und können uns gegenseitig zur Erinnerung anzwinkern, Probleme leichter zu nehmen, als erwartet, wie in der Situation, die ich am Schluss erzählen will:
Fritzchen kommt erst deutlich nach dem Stundenklingeln in die Schule. Er rennt die Treppen zum Klassenzimmer hoch. Da steht plötzlich der Direktor im Flur vor ihm. ,,15 Minuten zu spät!”, ruft der Direktor mit düsterer Miene. ,,Keine Sorge“, sagt Fritzchen, „ich auch.”
„Keine Sorge“ kann für uns Christen auf viele Weise zum Zug kommen! Gott gibt uns viele gute Gründe, nicht alles so schwer zu nehmen, wie es uns zunächst erscheint oder wie wir es uns oft selber machen. Und Jesus ermutigt und ermuntert uns, uns von vielen Sorgen zu verabschieden – sowohl von denen, die wir uns selbst ohne Not aufbürden, als auch von denen, die uns belasten und gerade darin provozieren sollen, neu nach Vertrauen zu Gott zu suchen!
“Alle eure Sorge werft auf ihn; denn er sorgt für euch.” (1. Petrus 5,7)
Leben wir also um Himmels willen mit leichterem Sorgengepäck und mit mehr Zuversicht! Amen.
Dirk Frickenschmidt