Das Predigtwort, das ich für diesen Abendgottesdienst ausgesucht habe, steht in Epheser 3,14.17-19
„Vor Gott knie und bete ich, dass Christus in Euren Herzen wohne, dass Ihr in seiner Liebe eingewurzelt und gegründet seid – und dass Ihr mit allen Heiligen begreifen könnt, was die Breite und die Länge und die Höhe und die Tiefe dessen ist, was uns mit Christus geschenkt ist und daass Ihr mit seiner Liebe, die eigentlich alle Erkenntnis übertrifft, und von der Fülle Gottes umfangen und erfüllt werdet!“
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Die Reformation damals war eine Bewegung der Konzentration und Verdichtung.
Gegen sovieles, was in 1500 Jahren Kirchengeschichte gewachsen und gewuchert war an Glaube, Aberglaube und Unglaube, an Machtentfaltung und Machtmissbrauch, an Irrungen und Wirrungen stellten die Reformatoren die Rückbesinnung auf den evangeliumsgemäßen Glauben. Es war eine Konzentration und Verdichtung, die sich bis heute etwas plakativ festmacht an einem vierfachen „Solus“, einem vierfachen „Allein“:
- Solus Christus – Allein Christus.
- Solus Gratia – Allein aus Gnade.
- Solus scriptura – Allein die Schrift.
- Solus fide – Allein aus Glaube.
Und mit dieser vierfachen Konzentration und Verdichtung des Glaubens vollzog sich historisch und kirchengeschichtlich eine Spaltung und eine eigenständige Konfession. Zurück zur Mitte, zum Kern, zum Zentrum – so lautet das protestantische Selbstverständnis, „evangelisch“ zu sein und zu werden, damals wie heute.
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Was mich an unserem Predigttext heute Abend reizt, ist die Tatsache, dass er – ganz evangeliumsgemäß – ebenfalls konzentriert ist auf die Mitte, auf Jesus Christus. Aber dass dieser Text zugleich eine räumliche Dimension anspricht, eine Ausdehnung, die von dieser Mitte her in die Weite geht. Denn Paulus sagt: Darum bete ich inständig, dass Ihr die Höhe und die Tiefe, die Länge und die Breite erkennt, immer mehr erkennt, die Christus für uns und die Welt bedeutet. Bildlich gesprochen also: Denkt, fühlt, erkennt, glaubt die räumliche Ausdehnung & Weite, die uns geschenkt ist mit Christus.
In der Therapie kennt man zwei Begriffe, die sich beziehen auf bestimmte Ängste, die Menschen mit sich rumtragen.
Das eine ist die „Klaustrophobie“ – d.h. die Angst vor zu engen Räumen: Wenn sie z.B. nicht in einen Fahrstuhl einsteigen können, weil sie dann Beklemmung bekommen, Panikatacken, Atemnot. Oder wenn sie nicht gut in einer Menschenmenge sein können, oder in einer Tiefgarage.
Das andere ist das Gegenteil, die sog. „Agoraphobie“ – die Menschen überfällt, wenn sie über und um sich keine Orientierung oder Begrenzung haben, in der Natur, mit dem weiten, unendlichen Himmel über sich, und einer grenzenlosen Landschaft um sich herum … Dann fühlen sie sich auf panische Art verloren.
Diese beiden Ängste gibt es in gewisser Weise auch, wenn es um Religion & Glaube geht – es ist die Frage nach Mitte & Weite, nach Bindung & Freiheit, nach Öffnung & Verdichtung.
Ich glaube, man versteht viel von der Kirchengeschichte, von Ökumene und Konfessionsstreitigkeiten, wenn man diese beiden Ängste auch in Rechnung stellt bei der Frage nach den Wegen des Glaubens und auch, was es heisst „evangelisch“ zu sein.
Und in meinem Werdegang und auf meinem Glaubensweg ist dies seit Jugendtagen das zentrale und spannende Thema geblieben:
Was bedeutet es, ein Christ, ein konfessionell evangelisch verorteter Christ zu sein – in der Spannung zwischen meiner Mitte, meiner Bindung einerseits, und der Freiheit, der Offenheit, der Weite andererseits.
Paulus jedenfalls sagt: „Darum bete ich inständig, dass Ihr die Höhe und die Tiefe, die Länge und die Breite erkennt, immer mehr erkennt, die Christus und das mit ihm gekommene Heil für uns und die Welt bedeutet.“
Und ich möchte das viefache „Allein“ – allein Christus, allein die Schrift, allein, die Gnade, allein der Glaube daraufhin heute Abend kurz reflektieren.
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I.
Ich beginne mit dem „Allein die Schrift“.
Sie liegt als Bibelbuch zentral und aufgeschlagen vor unseren Augen. Und die reformierte Tradition in ihrer strengsten Form sagt: Nichts Anderes – keine anderen Bilder, Gegenstände & Blickfänge – sollen im Kirchraum Platz haben.
Dieses protestantische „Allein“ war und bleibt befreiend – gegen alle Willkür, Anmaßung und Verfehlung, zu sagen, wo’s lang geht – sei es von Kirche, Päpsten, selbsternannten Propheten und Gurus oder weltlichen Autoritäten, Ideologien & Dikataturen.
Das gilt damals wie heute und durch alle Zeiten hindurch und will immer wieder der Boden sein, auf dem wir uns bewegen.
Aber dieses „Allein die Schrift“ kann evangelischseits auch immer wieder umschlagen – und das tuts heute wieder verstärkt – in einen Biblizismus und Fundamentalismus, der der Bibel eben nicht gerecht wird.
Denn sie ist – ob’s uns passt oder nicht – ein geschichtliches Buch, ein Menschenbuch, ein über tausend Jahre hin komplex sich entfaltendes Glaubensdokument.
Wer es unhistorisch nimmt, gleichmacherisch und unterwürfig den Sätzen und Buchstaben von Genesis 1 bis Offenbarung 22, der ist auf dem Holzweg.
Das wusste schon Paulus, wenn er schreibt: „Der Geist macht lebendig, aber der Buchstabe tötet.“ (2. Kor 3,6)
Und niemand kann im 20. bzw. 21. Jhdt. noch ernsthaft zurück hinter die Erkentnisse, die uns historisch-kritisch und auch religionsgeschichtlich, religionspsychologisch und naturwissenschaftlich in unserem Wissen vorliegen.
„Wir sind bibelgläubige Christen“ heisst es aber immer noch auch im innerprotestantschen Streit – – und als „Bibeltreue“ verteidigen diese dann kämpferisch & in Abgrenzung all die liberalen Tendenzen, sei es in Fragen der Sexualmoral, dem Ehe-, Geschlechter- und Familienverständnis, sei es in der Annäherung zu anderen Religionen und kulureller Vielfalt, sei es in konservativen politisch-gesellschaftlichen Positionierungen und in der Ergebenheit an endzeitliche Weltuntergangsszenarien, die ja alle schon in der Bibel – so heisst es – exakt vorausgesagt sind.
Am Extremsten ist das wohl in den USA – wo Trump nun seit zwei Jahren gewählt bleibt – und unverändert eine breite evangelikale Rückendeckung hat, weil bibeltreue Christen ihm als gottgeschenktem Bollwerk gegen die Liberalen die Treue halten und ihn dankend in ihr Gebet einschließen …
„Allein die Schrift“ ist also – übrigens genau wie die Demokratie oder das Grundgesetz auf weltlicher Ebene – ein hohes Gut, das nie Besitz und Selbstläufer ist und immer wieder neu belebt, vergegenwärtigt und dem Ursprungsgeist angemessen umgesetzt werden muss.
Sola Scriptura also als bleibende Richtung und im bleibenden Dialog, aber in der Dynamik von Freiheit & Bindung.
Auch wenn Viele es heute in der komplizierten Welt gerne hätten, dass ein Buch nur aufzuschlagen wäre und uns das Rund-um-Sorglospaket einer Meta-Ebene gibt.
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II.
„Solus Christus – Christus allein“.
Er – so sagen wir es – ist ja das eine, grundlegende, allumfassende und menschgewordene Wort Gottes, Gottes Gesicht und Gottes verbindliche Anrede an uns.
Wir Barmer sind da ja – auch als Unterbarmer – schon örtlich nahe dran, an der 1. und 2. These der Erklärung von 1934: „Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir zu vertrauen und zu gehorchen haben“ und „Durch ihn widerfährt uns frohe Befreiung aus den gottlosen Bindungen dieser Welt“.
Dies ist und bleibt de große Befreiungsimpuls evangelischen Glaubens. Befreiend gegenüber vielen Ansprüchen, Forderungen und Vereinnahmungen, die uns in der Welt begegnen.
Wie aber passt diese Christozentrik, diese ausschließliche und ausschließende Konzentration auf Christus, zu dem, was uns in der Welt auch begegnet und vorhanden an anderen Wahrheiten, Weisheiten, Reichtümern, Schönheiten & Erfüllungen?
- Muss evangelischer Glaube sich ständig definieren über Abgrenzung und falsche Beschränkung?
- Entspricht es evangelischer Freiheit, wenn der Glaube zusehr und ständig gesucht wird in dem, was uns unterscheidet und trennt und einzigartig macht?
- Und ist es Christus gemäß, wenn fromme Protestanten sich ständig in Position bringen gegenüber einer bösen Welt, in der die Versuchungen und liberalen Aufweichungen und Bedrohungen des Evangeliums scheinbar überall lauern?
Paulus sagt: „Darum bete ich inständig, dass Ihr die Höhe und die Tiefe, die Länge und die Breite erkennt, immer mehr erkennt, die Christus für uns und die Welt bedeutet.“
Karl Barth, der mit seiner strengen theologischen Ausrichtung auf das „Solus Christus“ genau vor dieser Frage stand, wie es sich denn verhält zu dem, was uns an Wahrem, Guten & Schönen in der Welt begegnet, sprach von den vielen „Lichtern“, die in der Welt in der Tat gegeben sind, und für uns Christen durch den, der das EINE Licht ist, auch leuchten und erhellen und zu ihrem Recht kommen dürfen.
Für mich bedeutet dies, dass – weit über unsere Sichtweisen, Grenzziehungen & Kirchtümer hinaus – der drei-einzige Gott als Schöpfer, als Christus-Offenbarung und als Lebensgeist auch an Stellen wirkt und erfahren wird, die wir nicht „auf dem Schirm haben“. Und dass wir evangelischen Christen noch viel „Luft nach oben“ haben, um uns einzubringen in die Welt, in Begegnungen und Lernprozesse. Weniger ängstlich, weniger abgrenzend, weniger ignorant.
III.
„Allein aus Gnade“
Mit jedem Jahr, das ich älter werde, mich umschaue in der Welt und meine unzähligen seelsorglichen Einblicke über die Jahre hin reflektiere, wird mir deutlich, wie gebrochen, ambivalent und uneindeutig unser aller Leben ist. Und wie wenig Grund wir haben, selbstgerecht zu sein.
Glaubte man in jüngeren Jahren noch, klare Vorstellungen und Wegmarken zu haben, zu wissen, wie man’s angeht, was richtig und was falsch ist – so lehrt einen das Leben, das wir alle uns verstricken in Schuld & Versäumnisse, dass wir schwächer und z.T. auch böser sind, als wir eigentlich wollen, und dass hinter den Fassaden des Funktionierens und der Selbstachtung viel vorhanden ist, was der Gnade bedarf. Deshalb gehört dieses „Sola Gratia“ für mich zu dem Wichtigsten meines evangelischen Glaubens. Ohne diese mir und anderen zugesprochene Gnade wüsste ich manchmal nicht, wo ich bin und wo ich bleibe.
Von Gnade zu leben und selber immer wieder gnädig zu sein mit mir und Anderen, ja mich mit meinem kleinen Leben letztlich immer wieder hineinzuwerfen in die zugesprochene Gnade Gottes, wird mir mehr und mehr zum Thema. Und ich finde sie wieder in zwei kurzen, wunderbaren Texten von Kurt Marti, dem Schweizer Pfarrer, Theologen & Schriftsteller, die sie auch als Beilage heute vor sich haben:
“O nein, o nein / ich hab mein Leben nicht im Griff, überhaupt nicht / eher umgekehrt: Es hat mich / Es: Da Leben jetzt, das Sterben einst / und darin, hoff ich: DU”
“Manchen bin ich einiges, einigen vieles schuldig geblieben / und die Zeit läuft davon / Wessen Liebe kann das noch gut machen? / Die meine nicht. Nein, die meine nicht.”
Diese beiden Texte berühren mich zutiefst … Und bringen das Sola Gratia – durchaus melancholisch, aber kraftvoll – auf den Punkt.
IV.
Und zum Schluss das „Sola Fide“ – „Allein aus Glaube“
Es war damals gemeint als Abwehr aller Auflagen und Beschwernisse, mit denen die Kirche ihre Macht über Menschen ausübte und ihnen Lasten auferlegte, durch die sie sollten selig werden – Bussübungen, Ablässe, Unterwerfungen, Gehorsamsleistungen – um sich damit den Himmel zu erkaufen und zu verdienen und dem schrecklichen Strafgericht Gottes zu entgehen …
Dass ist definitiv nicht mehr unsere Welt und unser Thema. Oder doch noch, auf andere Weise?
Ich glaube, auch in unseren evangelischen Herzen und Köpfen gibt es grosse Restbestände des Mistrauens gegenüber der göttlichen Wirklichkeit.
So wie ein Kind vielleicht, auf der Mauer stehend, noch zögert und sich nicht traut – obwohl der Vater davor, mit starken & offenen Armen, und sagt: „Spring doch, hab keine Angst, ich fang Dich auf!“
- Wir singen „Mir ist Erbarmung widerfahren!“ und fragen uns doch „Wirklich und in echt?“
- Wir bekennen empfangen sonntäglich den Gnadenzuspruch auf unser „Herr, erbarme Dich!“ und bekennen unseren Glauben an die „Vergebung der Sünden“ – und denken uns: „Im Ernst? So richtig? Ohne Wenn und Aber?“
- Wir teilen Kelch und Brot – und sehen und schmecken nicht wirklich vertrauensvoll „wie freundlich der Herr ist“.
Und so bleibt uns zum Schluss die Frage: Ob wir uns wirklich mit tiefem Vertrauen, ohne Angst & Misstrauen und aus tiefstem Herzen uns hineinfallen lassen können in diese Liebe Gottes, wie sie uns in Christus geschenkt und offenbart ist?! Und im Leben und Sterben hineinspringen können in die Offenen Arme Gottes, der uns eben nicht in letzter Sekunde noch fallen lässt!?
Wenn wir das bejahen können, sind wir im Zentrum reformatorischen Glaubens – und erleben Befreiung, Frieden und Freude. Oder wie Paulus es sagt. Wir erkennen mehr und mehr die Höhe und Tiefe, Länge und Breite dessen, was uns mit Christus geschenkt ist!